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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Die Entstehung des Faust.
von "Lonstantin Rößler.
I.. Einleitende Bemerkung.

us Heutigen ist es geläufig, zu sagen, der Faust habe Goethe
sechzig Jahre beschäftigt, habe ihn als das Werk seines Lebens
von dem Erwachen seiner Schöpferkraft bis zum Erlöschen der¬
selben begleitet. Daß der zweite Teil der Dichtung erst nahe dem
Lebensende des Dichters abgeschlossen worden, wußten die Zeit¬
genossen aus dem Erscheinen dieses Teiles erst nach dem Tode des Dichters.
Anders war es mit dem ersten Teil. Dieser war den Mitlebenden seit dem
Jahre 1808 als Ganzes vorgelegt. Das Geschlecht, das jung war, als der
Dichter starb, wußte mit dem zweiten Teil zunächst wenig anzufangen. Für
dieses Geschlecht blieb der erste Teil der Faust. Es nahm ihn auf als Ganzes
und durfte mit Recht die Wirkung als die eines Ganzen empfinden. Dieses
Geschlecht hatte vergessen, daß auch von dem ersten Teil einmal ein Bruchstück
veröffentlicht worden und daß der Einblick in dieses Bruchstück eigne Gedanken
anzuregen geeignet war über das Verhältnis der bei der Veröffentlichung des
Ganzen hinzugekommenen Stücke zu den zuerst veröffentlichten Szenen. Als
im Jahre 1849 der erste hundertjährige Geburtstag des Dichters gefeiert wurde
in einer wenig empfänglichen Zeit, war die Feier eigentlich nur in wenig Städten
ein Akt verständnisvoller Pietät, darunter Berlin und Leipzig. Der tiefe Eindruck der
Leipziger Feier war das Werk des unvergeßlichen Salomon Hirzel. Er hatte
eine Goetheausstellung veranstaltet, deren Hauptbestandteil seine eignen Samm¬
lungen bildeten. Da sah mancher Besucher mit Überraschung und Neugier unter
dem Glaskasten das fast nirgend mehr verbreitete Fragment von 1790.

Diese Thatsachen, welche darauf hindeuten, daß das Geschlecht, welches
unmittelbar nach Goethes Tode groß geworden, keineswegs unter dem uns so
geläufigen Eindruck des Faust als eines langsam, unter verschiednen Anläufen
entstandnen Werkes lebte, sind hier nicht umsonst erwähnt worden. Aus ihnen
wird begreiflich, wie in derselben Zeit eine lange Reihe von Faustkommentaren
entstehen konnte, welche es unternahmen, aus dem Faust, wie er vorlag, die
Idee eines planvollen Ganzen zu erfassen und aus diesem mehr oder minder
zuversichtlich erfaßten Ganzen das Verständnis der einzelnen Vorgänge, Szenen
und Aussprüche zu geben. Diese Art, den Faust zu kommentiren, hat eine
lange Zeit angedauert, und die Periode derselben schiebt sich weit hinein
in die Zeit, wo ganz andre Erklärungsmittel aufgesucht wurden. Es ist


Die Entstehung des Faust.
von «Lonstantin Rößler.
I.. Einleitende Bemerkung.

us Heutigen ist es geläufig, zu sagen, der Faust habe Goethe
sechzig Jahre beschäftigt, habe ihn als das Werk seines Lebens
von dem Erwachen seiner Schöpferkraft bis zum Erlöschen der¬
selben begleitet. Daß der zweite Teil der Dichtung erst nahe dem
Lebensende des Dichters abgeschlossen worden, wußten die Zeit¬
genossen aus dem Erscheinen dieses Teiles erst nach dem Tode des Dichters.
Anders war es mit dem ersten Teil. Dieser war den Mitlebenden seit dem
Jahre 1808 als Ganzes vorgelegt. Das Geschlecht, das jung war, als der
Dichter starb, wußte mit dem zweiten Teil zunächst wenig anzufangen. Für
dieses Geschlecht blieb der erste Teil der Faust. Es nahm ihn auf als Ganzes
und durfte mit Recht die Wirkung als die eines Ganzen empfinden. Dieses
Geschlecht hatte vergessen, daß auch von dem ersten Teil einmal ein Bruchstück
veröffentlicht worden und daß der Einblick in dieses Bruchstück eigne Gedanken
anzuregen geeignet war über das Verhältnis der bei der Veröffentlichung des
Ganzen hinzugekommenen Stücke zu den zuerst veröffentlichten Szenen. Als
im Jahre 1849 der erste hundertjährige Geburtstag des Dichters gefeiert wurde
in einer wenig empfänglichen Zeit, war die Feier eigentlich nur in wenig Städten
ein Akt verständnisvoller Pietät, darunter Berlin und Leipzig. Der tiefe Eindruck der
Leipziger Feier war das Werk des unvergeßlichen Salomon Hirzel. Er hatte
eine Goetheausstellung veranstaltet, deren Hauptbestandteil seine eignen Samm¬
lungen bildeten. Da sah mancher Besucher mit Überraschung und Neugier unter
dem Glaskasten das fast nirgend mehr verbreitete Fragment von 1790.

Diese Thatsachen, welche darauf hindeuten, daß das Geschlecht, welches
unmittelbar nach Goethes Tode groß geworden, keineswegs unter dem uns so
geläufigen Eindruck des Faust als eines langsam, unter verschiednen Anläufen
entstandnen Werkes lebte, sind hier nicht umsonst erwähnt worden. Aus ihnen
wird begreiflich, wie in derselben Zeit eine lange Reihe von Faustkommentaren
entstehen konnte, welche es unternahmen, aus dem Faust, wie er vorlag, die
Idee eines planvollen Ganzen zu erfassen und aus diesem mehr oder minder
zuversichtlich erfaßten Ganzen das Verständnis der einzelnen Vorgänge, Szenen
und Aussprüche zu geben. Diese Art, den Faust zu kommentiren, hat eine
lange Zeit angedauert, und die Periode derselben schiebt sich weit hinein
in die Zeit, wo ganz andre Erklärungsmittel aufgesucht wurden. Es ist


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[0446] Die Entstehung des Faust. von «Lonstantin Rößler. I.. Einleitende Bemerkung. us Heutigen ist es geläufig, zu sagen, der Faust habe Goethe sechzig Jahre beschäftigt, habe ihn als das Werk seines Lebens von dem Erwachen seiner Schöpferkraft bis zum Erlöschen der¬ selben begleitet. Daß der zweite Teil der Dichtung erst nahe dem Lebensende des Dichters abgeschlossen worden, wußten die Zeit¬ genossen aus dem Erscheinen dieses Teiles erst nach dem Tode des Dichters. Anders war es mit dem ersten Teil. Dieser war den Mitlebenden seit dem Jahre 1808 als Ganzes vorgelegt. Das Geschlecht, das jung war, als der Dichter starb, wußte mit dem zweiten Teil zunächst wenig anzufangen. Für dieses Geschlecht blieb der erste Teil der Faust. Es nahm ihn auf als Ganzes und durfte mit Recht die Wirkung als die eines Ganzen empfinden. Dieses Geschlecht hatte vergessen, daß auch von dem ersten Teil einmal ein Bruchstück veröffentlicht worden und daß der Einblick in dieses Bruchstück eigne Gedanken anzuregen geeignet war über das Verhältnis der bei der Veröffentlichung des Ganzen hinzugekommenen Stücke zu den zuerst veröffentlichten Szenen. Als im Jahre 1849 der erste hundertjährige Geburtstag des Dichters gefeiert wurde in einer wenig empfänglichen Zeit, war die Feier eigentlich nur in wenig Städten ein Akt verständnisvoller Pietät, darunter Berlin und Leipzig. Der tiefe Eindruck der Leipziger Feier war das Werk des unvergeßlichen Salomon Hirzel. Er hatte eine Goetheausstellung veranstaltet, deren Hauptbestandteil seine eignen Samm¬ lungen bildeten. Da sah mancher Besucher mit Überraschung und Neugier unter dem Glaskasten das fast nirgend mehr verbreitete Fragment von 1790. Diese Thatsachen, welche darauf hindeuten, daß das Geschlecht, welches unmittelbar nach Goethes Tode groß geworden, keineswegs unter dem uns so geläufigen Eindruck des Faust als eines langsam, unter verschiednen Anläufen entstandnen Werkes lebte, sind hier nicht umsonst erwähnt worden. Aus ihnen wird begreiflich, wie in derselben Zeit eine lange Reihe von Faustkommentaren entstehen konnte, welche es unternahmen, aus dem Faust, wie er vorlag, die Idee eines planvollen Ganzen zu erfassen und aus diesem mehr oder minder zuversichtlich erfaßten Ganzen das Verständnis der einzelnen Vorgänge, Szenen und Aussprüche zu geben. Diese Art, den Faust zu kommentiren, hat eine lange Zeit angedauert, und die Periode derselben schiebt sich weit hinein in die Zeit, wo ganz andre Erklärungsmittel aufgesucht wurden. Es ist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/446>, abgerufen am 27.07.2024.