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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gedanken über Goethe.
voll Victor Hehn. 2. Stände.

as Zusammenlebe" der Menschen, naturgeschichtlich bestimmt, son¬
dert sich je nach der Beschäftigung in getrennte Gruppen, jede
mit eigenem, durch die Stellung und das Verhältnis zum Ganzen
ihr aufgedrücktem Gepräge, So fand es schon, wie wir gesehen
haben, ein ehrwürdiger Gesetzgeber des Altertums, der weise Solon,
sechshundert Jahre vor der christlichen Ära, ja in noch früherer Zeit zeigen sich
uns in Griechenland leichte Abbilder des ägyptischen und indischen Kastenwesens,
dnrch Abkunft und Vererbung befestigte Arten der Thätigkeit: so die Sänger,
denen wir das älteste Epos verdanken, die Homeriden, oder die Ärzte, die
Asklepiaden, auf der Insel Kos und anderswo; sie tragen alle gleichen Namen,
zum Zeichen, daß das Individuum außer dem Geschlechte und Berufe nichts ist
und nichts zu sein verlangt.

Auch die germanische Welt erscheint, wo sie uns zuerst bekannt wird, in
die drei Stände der Knechte, Freien und Edeln geteilt; aus den letztern gingen
die Könige hervor, die zugleich das Amt des Priestertums übten. Dieselben
drei Stände leitet das altnordische MgsmÄ in mystischer Weisheit aus der
Familie und deren Erbfolge ab. Von dem Ältervater und der Ältermutter
(Ä und sääa) stammen die Knechte (tnrAslar), vom Großvater lind der Gro߬
mutter (all und Äurma) die Freien (tarin-, noch heute deutsch Karl, Kerl),
endlich von Vater und Mutter (Mir und moÄir) die Edeln (is-rlar, das angel¬
sächsische fort, englische fait.) Die erstem sind Mißgestalt und schmutzig, nähren
sich von grober Speise, die letztern schön, leuchtend, tapfer und kriegerisch. Im
christlichen Mittelalter zerfällt die Gesellschaft noch immer in drei Teile, aber
als eine durch fremde Kultur und den Gang der Völkergeschichte bewirkte Glie¬
derung: es sind die Bauern, die Ritter, die Priester. So in Freidanks "Be¬
scheidenheit" 7, 1:


Vol IM arin leben KSseliiFon,
KsvÄrs, rittvr. xn^Kön --

Was andre mit den drei Worten: flots, swsrt unt vllluoo bildlich ausdrücken.
Gegen Ende des Mittelalters, als die adliche Romantik, die aus Frankreich
gekommen war, und die religiöse Phantastik, die die Kreuzesfahne nach Jerusalem
getragen hatte, verblüht war, kam eine vierte Abstufung von mehr prosaischen
und nüchternem Charakter hinzu -- die Bürger der Städte, die Zünftler und ihre


Gedanken über Goethe.
voll Victor Hehn. 2. Stände.

as Zusammenlebe» der Menschen, naturgeschichtlich bestimmt, son¬
dert sich je nach der Beschäftigung in getrennte Gruppen, jede
mit eigenem, durch die Stellung und das Verhältnis zum Ganzen
ihr aufgedrücktem Gepräge, So fand es schon, wie wir gesehen
haben, ein ehrwürdiger Gesetzgeber des Altertums, der weise Solon,
sechshundert Jahre vor der christlichen Ära, ja in noch früherer Zeit zeigen sich
uns in Griechenland leichte Abbilder des ägyptischen und indischen Kastenwesens,
dnrch Abkunft und Vererbung befestigte Arten der Thätigkeit: so die Sänger,
denen wir das älteste Epos verdanken, die Homeriden, oder die Ärzte, die
Asklepiaden, auf der Insel Kos und anderswo; sie tragen alle gleichen Namen,
zum Zeichen, daß das Individuum außer dem Geschlechte und Berufe nichts ist
und nichts zu sein verlangt.

Auch die germanische Welt erscheint, wo sie uns zuerst bekannt wird, in
die drei Stände der Knechte, Freien und Edeln geteilt; aus den letztern gingen
die Könige hervor, die zugleich das Amt des Priestertums übten. Dieselben
drei Stände leitet das altnordische MgsmÄ in mystischer Weisheit aus der
Familie und deren Erbfolge ab. Von dem Ältervater und der Ältermutter
(Ä und sääa) stammen die Knechte (tnrAslar), vom Großvater lind der Gro߬
mutter (all und Äurma) die Freien (tarin-, noch heute deutsch Karl, Kerl),
endlich von Vater und Mutter (Mir und moÄir) die Edeln (is-rlar, das angel¬
sächsische fort, englische fait.) Die erstem sind Mißgestalt und schmutzig, nähren
sich von grober Speise, die letztern schön, leuchtend, tapfer und kriegerisch. Im
christlichen Mittelalter zerfällt die Gesellschaft noch immer in drei Teile, aber
als eine durch fremde Kultur und den Gang der Völkergeschichte bewirkte Glie¬
derung: es sind die Bauern, die Ritter, die Priester. So in Freidanks „Be¬
scheidenheit" 7, 1:


Vol IM arin leben KSseliiFon,
KsvÄrs, rittvr. xn^Kön —

Was andre mit den drei Worten: flots, swsrt unt vllluoo bildlich ausdrücken.
Gegen Ende des Mittelalters, als die adliche Romantik, die aus Frankreich
gekommen war, und die religiöse Phantastik, die die Kreuzesfahne nach Jerusalem
getragen hatte, verblüht war, kam eine vierte Abstufung von mehr prosaischen
und nüchternem Charakter hinzu — die Bürger der Städte, die Zünftler und ihre


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[0253] Gedanken über Goethe. voll Victor Hehn. 2. Stände. as Zusammenlebe» der Menschen, naturgeschichtlich bestimmt, son¬ dert sich je nach der Beschäftigung in getrennte Gruppen, jede mit eigenem, durch die Stellung und das Verhältnis zum Ganzen ihr aufgedrücktem Gepräge, So fand es schon, wie wir gesehen haben, ein ehrwürdiger Gesetzgeber des Altertums, der weise Solon, sechshundert Jahre vor der christlichen Ära, ja in noch früherer Zeit zeigen sich uns in Griechenland leichte Abbilder des ägyptischen und indischen Kastenwesens, dnrch Abkunft und Vererbung befestigte Arten der Thätigkeit: so die Sänger, denen wir das älteste Epos verdanken, die Homeriden, oder die Ärzte, die Asklepiaden, auf der Insel Kos und anderswo; sie tragen alle gleichen Namen, zum Zeichen, daß das Individuum außer dem Geschlechte und Berufe nichts ist und nichts zu sein verlangt. Auch die germanische Welt erscheint, wo sie uns zuerst bekannt wird, in die drei Stände der Knechte, Freien und Edeln geteilt; aus den letztern gingen die Könige hervor, die zugleich das Amt des Priestertums übten. Dieselben drei Stände leitet das altnordische MgsmÄ in mystischer Weisheit aus der Familie und deren Erbfolge ab. Von dem Ältervater und der Ältermutter (Ä und sääa) stammen die Knechte (tnrAslar), vom Großvater lind der Gro߬ mutter (all und Äurma) die Freien (tarin-, noch heute deutsch Karl, Kerl), endlich von Vater und Mutter (Mir und moÄir) die Edeln (is-rlar, das angel¬ sächsische fort, englische fait.) Die erstem sind Mißgestalt und schmutzig, nähren sich von grober Speise, die letztern schön, leuchtend, tapfer und kriegerisch. Im christlichen Mittelalter zerfällt die Gesellschaft noch immer in drei Teile, aber als eine durch fremde Kultur und den Gang der Völkergeschichte bewirkte Glie¬ derung: es sind die Bauern, die Ritter, die Priester. So in Freidanks „Be¬ scheidenheit" 7, 1: Vol IM arin leben KSseliiFon, KsvÄrs, rittvr. xn^Kön — Was andre mit den drei Worten: flots, swsrt unt vllluoo bildlich ausdrücken. Gegen Ende des Mittelalters, als die adliche Romantik, die aus Frankreich gekommen war, und die religiöse Phantastik, die die Kreuzesfahne nach Jerusalem getragen hatte, verblüht war, kam eine vierte Abstufung von mehr prosaischen und nüchternem Charakter hinzu — die Bürger der Städte, die Zünftler und ihre

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/253>, abgerufen am 13.11.2024.