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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gedanken über Goethe.

Obrigkeiten. Die Reformation entfernte dann in allen Gegenden, wo sie sich
durchgesetzt hatte, die Pfaffheit oder Stola als eigne, der Welt der Laien gegenüber¬
liegende Schicht, und es blieben wiederum die drei sich über einander bauenden
Stockwerke: Bauern, Bürger, Adel. Im achtzehnten Jahrhundert endlich, zur
Zeit Goethes, war im modernen Staate das Leben mannichfacher geworden und
zerfiel innerhalb der genannten, noch immer geltenden Grundzüge in eine Menge
besondrer Gestalten und individueller Berufskreise. Aurelie im "Wilhelm Meister"
(4, 16) zählt einige auf, mit kurzer, scharfer Charakteristik: der kühne Soldat
(tortis se ÄMM08As, Egmont im Kerker: "wo der Soldat sein angebornes Recht
auf alle Welt mit raschem Schritt sich anmaßt," Soldatenlied im Faust: "kühn
ist das Mühen, herrlich der Lohn," "Mädchen und Burgen müssen sich geben")/')
der rasche Prinz ("der flüchtige Junker" am Anfang von "Wilhelm Meister"
ist soviel als der Offizier), der derbe Landbaron, der phantastisch aufgestutzte
Student (auch innerlich phantastisch, erfahrungslos, hohl-begeistert, seine Kräfte
vergeudend), der bewegliche Ladendiener (der dienstwillig und gefällig im Laden
hin und her fährt, auf- und abklettert), der schwankfüßige genügsame Domherr,
der freundlich glatt-platte Hofmann, der eingebildete Kaufmannssohn (anspruchs¬
voll und halbgebildet, mit Ringen und Ketten), der gewandte, abwiegende Welt¬
mann, der junge, aus der Bahn schreitende Geistliche (damals vielleicht der
rationalistische, keck das Dogma verwerfende, der Freund der Literatur, des
Theaters und der Schauspielerinnen; später kam eine Zeit, wo der Geistliche
im orthodoxen Eifer nach der entgegengesetzten Seite aus dem Geleise geriet),
der steife aufmerksame Geschäftsmann, der demütig-stolz verlegene Gelehrte (äußerst
treffende Beiwörter), der gelassene, sowie der schnelle und thätig spekulirende
Kaufmann (ersterer der deutsche in den Seestädten, letzterer der jüdische) u. s. w.
Vielleicht ist dies Bild der sozialen Bestandteile um dieselbe Zeit entworfen,
wo der Dichter an Frau von Stein schrieb (20. September 1785): "Edelsheim
(Geheimerat im Dienste des Markgrafen von Baden) ist auch hier, und sein
Umgang macht mir mehr Frende als jemals, ich kenne keine" tingere" Menschen.
Er hat mir manches zur Charakteristik der Stände geholfen, worauf ich so aus¬
gehe" -- oder auch drei Jahre früher, als er i" sein Tagebuch schrieb (19. Ja¬
nuar 1782): "Jeder Stand hat seinen eignen BeschrünkungÄreis, in dem sich
Fehler und Tugenden erzeugen" -- oder endlich in oder bald nach Italien,
denn von dort schreibt er (2. Oktober 1787): "Ich habe Gelegenheit gehabt,
über mich selbst und andre, über Welt und Geschichte viel nachzudenken, wovon
ich manches Gute, wenn gleich nicht Neue, auf meine Art mitteilen werde. Zu-



*) Aus Ottiliens Tagebuche: "Die größten Vorteile im Leben Überhaupt wie in der
Gesellschaft hat ein gebildeter Soldat. -- Rohe Kriegsleute gehen wenigstens nicht aus ihrem
Charakter, und weil doch meist hinter der Stärke eine Gutmütigkeit verborgen liegt, so ist
im Notfall auch mit ihnen auszukommen."
Gedanken über Goethe.

Obrigkeiten. Die Reformation entfernte dann in allen Gegenden, wo sie sich
durchgesetzt hatte, die Pfaffheit oder Stola als eigne, der Welt der Laien gegenüber¬
liegende Schicht, und es blieben wiederum die drei sich über einander bauenden
Stockwerke: Bauern, Bürger, Adel. Im achtzehnten Jahrhundert endlich, zur
Zeit Goethes, war im modernen Staate das Leben mannichfacher geworden und
zerfiel innerhalb der genannten, noch immer geltenden Grundzüge in eine Menge
besondrer Gestalten und individueller Berufskreise. Aurelie im „Wilhelm Meister"
(4, 16) zählt einige auf, mit kurzer, scharfer Charakteristik: der kühne Soldat
(tortis se ÄMM08As, Egmont im Kerker: „wo der Soldat sein angebornes Recht
auf alle Welt mit raschem Schritt sich anmaßt," Soldatenlied im Faust: „kühn
ist das Mühen, herrlich der Lohn," „Mädchen und Burgen müssen sich geben")/')
der rasche Prinz („der flüchtige Junker" am Anfang von „Wilhelm Meister"
ist soviel als der Offizier), der derbe Landbaron, der phantastisch aufgestutzte
Student (auch innerlich phantastisch, erfahrungslos, hohl-begeistert, seine Kräfte
vergeudend), der bewegliche Ladendiener (der dienstwillig und gefällig im Laden
hin und her fährt, auf- und abklettert), der schwankfüßige genügsame Domherr,
der freundlich glatt-platte Hofmann, der eingebildete Kaufmannssohn (anspruchs¬
voll und halbgebildet, mit Ringen und Ketten), der gewandte, abwiegende Welt¬
mann, der junge, aus der Bahn schreitende Geistliche (damals vielleicht der
rationalistische, keck das Dogma verwerfende, der Freund der Literatur, des
Theaters und der Schauspielerinnen; später kam eine Zeit, wo der Geistliche
im orthodoxen Eifer nach der entgegengesetzten Seite aus dem Geleise geriet),
der steife aufmerksame Geschäftsmann, der demütig-stolz verlegene Gelehrte (äußerst
treffende Beiwörter), der gelassene, sowie der schnelle und thätig spekulirende
Kaufmann (ersterer der deutsche in den Seestädten, letzterer der jüdische) u. s. w.
Vielleicht ist dies Bild der sozialen Bestandteile um dieselbe Zeit entworfen,
wo der Dichter an Frau von Stein schrieb (20. September 1785): „Edelsheim
(Geheimerat im Dienste des Markgrafen von Baden) ist auch hier, und sein
Umgang macht mir mehr Frende als jemals, ich kenne keine» tingere» Menschen.
Er hat mir manches zur Charakteristik der Stände geholfen, worauf ich so aus¬
gehe" — oder auch drei Jahre früher, als er i» sein Tagebuch schrieb (19. Ja¬
nuar 1782): „Jeder Stand hat seinen eignen BeschrünkungÄreis, in dem sich
Fehler und Tugenden erzeugen" — oder endlich in oder bald nach Italien,
denn von dort schreibt er (2. Oktober 1787): „Ich habe Gelegenheit gehabt,
über mich selbst und andre, über Welt und Geschichte viel nachzudenken, wovon
ich manches Gute, wenn gleich nicht Neue, auf meine Art mitteilen werde. Zu-



*) Aus Ottiliens Tagebuche: „Die größten Vorteile im Leben Überhaupt wie in der
Gesellschaft hat ein gebildeter Soldat. — Rohe Kriegsleute gehen wenigstens nicht aus ihrem
Charakter, und weil doch meist hinter der Stärke eine Gutmütigkeit verborgen liegt, so ist
im Notfall auch mit ihnen auszukommen."
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/254>, abgerufen am 27.07.2024.