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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Zum Raffael-Jubiläum.

Menschennatur so wohlberechneten Grundsatze, daß man sich zu seinen Wohl¬
thätern im allgemeinen nicht hingezogen fühlt. Aber es mag wenigstens konstatirt
werden, da dies meines Wissens in dieser Weise bisher noch nicht geschehen ist.

Was haben dagegen, fragen wir zum Schluß, andre Sprachen dem Un¬
garischen zu verdanken? Drei, sage drei Wörter sind es, welche Europa den
Ungarn entlehnt hat: nusziiu-, Husar, d. i. ein von zwanzig Gehöften gestellter
Reiter, tnMzn, Säbel, d. i. das Schneidende, und Imvsi, Kutsche, ein nach
dem Dorfe Koch bei Raab benannter Wagen. Die slavischen Sprachen haben
sich das ungarische Wort ti^van^, Statue, Götzenbild angeeignet. Das
polnische Wort Zisrmslc, Knappe stammt auch aus ungarischer Quelle. In
Deutschland sind die drei Wörter Dolman, Tschako und Bekesche be¬
kannt geworden. (Und Gulasch? D. Red.) Weitere Spuren ungarischen
Einflusses habe ich in den mir bekannten Sprachen nicht entdecken können.


U?. Roerner.


Zum Raffael-Jubiläum.

er vierhundertjährige Geburtstag Raffaels, wie wir der Kürze
wegen sagen wollen, obgleich die adjektivische Bezeichnung ernsten
Anfechtungen unterliegt, trifft die Kunstwissenschaft in der Si¬
tuation einer braven Hausfrau, die kurz vor Ostern ans große
Reinemachen gegangen ist: die Gardinen sind abgenommen, die
Möbel sind von den Wänden gerückt, und das unterste ist zu oberst gekehrt. Man
kommt sich vor wie in einem noch kahlen Hause, welches sich gerade zum Em¬
pfange eines lieben oder angesehenen Gastes rüstet. Alle Grundfesten, welche
bisher die Lebensgeschichte Raffaels stützten, sind verrückt oder doch erschüttert
worden. Wenn man bisher glaubte, daß die Unsicherheit unsrer kunstgeschicht¬
lichen Kenntnisse sich nur auf die dunkeln Zeiten des Mittelalters und die Vor¬
läufer der Renaissance bezöge, so ist man während der letzten Jahre eines andern
belehrt worden. Auch wenn man den Lebensweg Lionardo da Vincis, Raffaels
und Michelangelos verfolgt, strauchelt man bei jedem Schritte an einem erra¬
tischen Blocke, welchen die Mhthenbildung späterer Zeit auf diesen Weg gerollt
hat. Vieles ist in den letzten Jahren gethan worden, um dieses Geröll wieder
aus dem Wege zu schaffen. Aber gerade jetzt steht man sich ratloser als zuvor


Zum Raffael-Jubiläum.

Menschennatur so wohlberechneten Grundsatze, daß man sich zu seinen Wohl¬
thätern im allgemeinen nicht hingezogen fühlt. Aber es mag wenigstens konstatirt
werden, da dies meines Wissens in dieser Weise bisher noch nicht geschehen ist.

Was haben dagegen, fragen wir zum Schluß, andre Sprachen dem Un¬
garischen zu verdanken? Drei, sage drei Wörter sind es, welche Europa den
Ungarn entlehnt hat: nusziiu-, Husar, d. i. ein von zwanzig Gehöften gestellter
Reiter, tnMzn, Säbel, d. i. das Schneidende, und Imvsi, Kutsche, ein nach
dem Dorfe Koch bei Raab benannter Wagen. Die slavischen Sprachen haben
sich das ungarische Wort ti^van^, Statue, Götzenbild angeeignet. Das
polnische Wort Zisrmslc, Knappe stammt auch aus ungarischer Quelle. In
Deutschland sind die drei Wörter Dolman, Tschako und Bekesche be¬
kannt geworden. (Und Gulasch? D. Red.) Weitere Spuren ungarischen
Einflusses habe ich in den mir bekannten Sprachen nicht entdecken können.


U?. Roerner.


Zum Raffael-Jubiläum.

er vierhundertjährige Geburtstag Raffaels, wie wir der Kürze
wegen sagen wollen, obgleich die adjektivische Bezeichnung ernsten
Anfechtungen unterliegt, trifft die Kunstwissenschaft in der Si¬
tuation einer braven Hausfrau, die kurz vor Ostern ans große
Reinemachen gegangen ist: die Gardinen sind abgenommen, die
Möbel sind von den Wänden gerückt, und das unterste ist zu oberst gekehrt. Man
kommt sich vor wie in einem noch kahlen Hause, welches sich gerade zum Em¬
pfange eines lieben oder angesehenen Gastes rüstet. Alle Grundfesten, welche
bisher die Lebensgeschichte Raffaels stützten, sind verrückt oder doch erschüttert
worden. Wenn man bisher glaubte, daß die Unsicherheit unsrer kunstgeschicht¬
lichen Kenntnisse sich nur auf die dunkeln Zeiten des Mittelalters und die Vor¬
läufer der Renaissance bezöge, so ist man während der letzten Jahre eines andern
belehrt worden. Auch wenn man den Lebensweg Lionardo da Vincis, Raffaels
und Michelangelos verfolgt, strauchelt man bei jedem Schritte an einem erra¬
tischen Blocke, welchen die Mhthenbildung späterer Zeit auf diesen Weg gerollt
hat. Vieles ist in den letzten Jahren gethan worden, um dieses Geröll wieder
aus dem Wege zu schaffen. Aber gerade jetzt steht man sich ratloser als zuvor


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[0080] Zum Raffael-Jubiläum. Menschennatur so wohlberechneten Grundsatze, daß man sich zu seinen Wohl¬ thätern im allgemeinen nicht hingezogen fühlt. Aber es mag wenigstens konstatirt werden, da dies meines Wissens in dieser Weise bisher noch nicht geschehen ist. Was haben dagegen, fragen wir zum Schluß, andre Sprachen dem Un¬ garischen zu verdanken? Drei, sage drei Wörter sind es, welche Europa den Ungarn entlehnt hat: nusziiu-, Husar, d. i. ein von zwanzig Gehöften gestellter Reiter, tnMzn, Säbel, d. i. das Schneidende, und Imvsi, Kutsche, ein nach dem Dorfe Koch bei Raab benannter Wagen. Die slavischen Sprachen haben sich das ungarische Wort ti^van^, Statue, Götzenbild angeeignet. Das polnische Wort Zisrmslc, Knappe stammt auch aus ungarischer Quelle. In Deutschland sind die drei Wörter Dolman, Tschako und Bekesche be¬ kannt geworden. (Und Gulasch? D. Red.) Weitere Spuren ungarischen Einflusses habe ich in den mir bekannten Sprachen nicht entdecken können. U?. Roerner. Zum Raffael-Jubiläum. er vierhundertjährige Geburtstag Raffaels, wie wir der Kürze wegen sagen wollen, obgleich die adjektivische Bezeichnung ernsten Anfechtungen unterliegt, trifft die Kunstwissenschaft in der Si¬ tuation einer braven Hausfrau, die kurz vor Ostern ans große Reinemachen gegangen ist: die Gardinen sind abgenommen, die Möbel sind von den Wänden gerückt, und das unterste ist zu oberst gekehrt. Man kommt sich vor wie in einem noch kahlen Hause, welches sich gerade zum Em¬ pfange eines lieben oder angesehenen Gastes rüstet. Alle Grundfesten, welche bisher die Lebensgeschichte Raffaels stützten, sind verrückt oder doch erschüttert worden. Wenn man bisher glaubte, daß die Unsicherheit unsrer kunstgeschicht¬ lichen Kenntnisse sich nur auf die dunkeln Zeiten des Mittelalters und die Vor¬ läufer der Renaissance bezöge, so ist man während der letzten Jahre eines andern belehrt worden. Auch wenn man den Lebensweg Lionardo da Vincis, Raffaels und Michelangelos verfolgt, strauchelt man bei jedem Schritte an einem erra¬ tischen Blocke, welchen die Mhthenbildung späterer Zeit auf diesen Weg gerollt hat. Vieles ist in den letzten Jahren gethan worden, um dieses Geröll wieder aus dem Wege zu schaffen. Aber gerade jetzt steht man sich ratloser als zuvor

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/80>, abgerufen am 29.06.2024.