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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Zur Lutherfeier.
von einem Lutheraner.

or vierundzwanzig Jahren feierte das deutsche Volk mit allge¬
meiner Begeisterung den hundertsten Geburtstag Schillers. Im
gegenwärtigen Jahre steht uns die Feier von Luthers vier¬
hundertsten Geburtstag bevor. Wird die Begeisterung eine gleiche
sein? -- Was ist Schiller gegen Luther? Ohne Zweifel hat der
Dichter auf unsre nationale, ästhetische und politische Entwicklung einen weit¬
reichenden Einfluß geübt. Über Luther aber konnte Döllinger, eine katholische
Autorität ersten Ranges, sagen: "Es war seine überwältigende Geistesgröße und
wunderbare Vielseitigkeit, welche Luther zum Manne seiner Zeit und seines
Volkes machte; und es ist richtig: es hat nie einen Deutschen gegeben, der sein
Volk so intuitio verstanden hätte und wiederum von der Nation so ganz erfaßt,
ich möchte sagen, von ihr eingesogen worden wäre, wie dieser Augustinermönch
in Wittenberg. Sinn und Geist der Deutschen war in seiner Hand, wie die
Leier in der Hand eines Künstlers. Hatte er seinem Volke doch auch mehr ge¬
geben, als jemals in christlicher Zeit ein Mann seinem Volke gegeben hat:
Sprache, Volkslehrbuch, Bibel, Kirchenlied; und alles, was die Gegner ihm zu
erwiedern oder an die Seite zu stellen hatten, das nahm sich matt und kraft-
und farblos ans neben seiner hinreißenden Beredtsamkeit. Sie stammelten, er
redete. Nur er war es. der der deutschen Sprache, dem deutschen Geiste das
unvergängliche Siegel seines Geistes aufgedrückt hat. und selbst diejenigen unter
den Deutschen, die ihn von Grund der Seele verabscheuen als den gewaltigen
Irrlehrer und Verführer der Nation, können nicht anders, sie müssen reden mit
seinen Worten, müssen denken mit seinen Gedanken."*)

Dies Urteil eines Katholiken aber muß der Protestant noch wesentlich ver¬
tiefen und erweitern. Dem Protestanten gilt der große Reformator als der
Geburtshelfer der modernen Weltanschauung. Ist er doch der Befreier des
Geistes. Herzens und Gewissens von aller Menschensatzung, der Zerbrecher des
geisttötenden Joches der Formel und des Buchstabens, der Erneuerer der wahr¬
haft christlichen Sittlichkeit, welche aus der innersten Überzeugung erwächst an¬
statt jener Verflachung und Veräußerlichung durch die sogenannten guten Werke,
die von einem Nebenmenschen auferlegt, von menschlicher Autorität ihrem Werte und
ihrer Wirkung nach geschätzt werden. Luther gräbt das reine Evangelium aus all
dein Schutt und Kehricht der Jahrhunderte hervor. Er macht den evangelischen



*) Berge. M. Bnnmgnrten. Eine deutsche Reveille. Rostock, Hiustorff. 1383.
Zur Lutherfeier.
von einem Lutheraner.

or vierundzwanzig Jahren feierte das deutsche Volk mit allge¬
meiner Begeisterung den hundertsten Geburtstag Schillers. Im
gegenwärtigen Jahre steht uns die Feier von Luthers vier¬
hundertsten Geburtstag bevor. Wird die Begeisterung eine gleiche
sein? — Was ist Schiller gegen Luther? Ohne Zweifel hat der
Dichter auf unsre nationale, ästhetische und politische Entwicklung einen weit¬
reichenden Einfluß geübt. Über Luther aber konnte Döllinger, eine katholische
Autorität ersten Ranges, sagen: „Es war seine überwältigende Geistesgröße und
wunderbare Vielseitigkeit, welche Luther zum Manne seiner Zeit und seines
Volkes machte; und es ist richtig: es hat nie einen Deutschen gegeben, der sein
Volk so intuitio verstanden hätte und wiederum von der Nation so ganz erfaßt,
ich möchte sagen, von ihr eingesogen worden wäre, wie dieser Augustinermönch
in Wittenberg. Sinn und Geist der Deutschen war in seiner Hand, wie die
Leier in der Hand eines Künstlers. Hatte er seinem Volke doch auch mehr ge¬
geben, als jemals in christlicher Zeit ein Mann seinem Volke gegeben hat:
Sprache, Volkslehrbuch, Bibel, Kirchenlied; und alles, was die Gegner ihm zu
erwiedern oder an die Seite zu stellen hatten, das nahm sich matt und kraft-
und farblos ans neben seiner hinreißenden Beredtsamkeit. Sie stammelten, er
redete. Nur er war es. der der deutschen Sprache, dem deutschen Geiste das
unvergängliche Siegel seines Geistes aufgedrückt hat. und selbst diejenigen unter
den Deutschen, die ihn von Grund der Seele verabscheuen als den gewaltigen
Irrlehrer und Verführer der Nation, können nicht anders, sie müssen reden mit
seinen Worten, müssen denken mit seinen Gedanken."*)

Dies Urteil eines Katholiken aber muß der Protestant noch wesentlich ver¬
tiefen und erweitern. Dem Protestanten gilt der große Reformator als der
Geburtshelfer der modernen Weltanschauung. Ist er doch der Befreier des
Geistes. Herzens und Gewissens von aller Menschensatzung, der Zerbrecher des
geisttötenden Joches der Formel und des Buchstabens, der Erneuerer der wahr¬
haft christlichen Sittlichkeit, welche aus der innersten Überzeugung erwächst an¬
statt jener Verflachung und Veräußerlichung durch die sogenannten guten Werke,
die von einem Nebenmenschen auferlegt, von menschlicher Autorität ihrem Werte und
ihrer Wirkung nach geschätzt werden. Luther gräbt das reine Evangelium aus all
dein Schutt und Kehricht der Jahrhunderte hervor. Er macht den evangelischen



*) Berge. M. Bnnmgnrten. Eine deutsche Reveille. Rostock, Hiustorff. 1383.
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[0389] Zur Lutherfeier. von einem Lutheraner. or vierundzwanzig Jahren feierte das deutsche Volk mit allge¬ meiner Begeisterung den hundertsten Geburtstag Schillers. Im gegenwärtigen Jahre steht uns die Feier von Luthers vier¬ hundertsten Geburtstag bevor. Wird die Begeisterung eine gleiche sein? — Was ist Schiller gegen Luther? Ohne Zweifel hat der Dichter auf unsre nationale, ästhetische und politische Entwicklung einen weit¬ reichenden Einfluß geübt. Über Luther aber konnte Döllinger, eine katholische Autorität ersten Ranges, sagen: „Es war seine überwältigende Geistesgröße und wunderbare Vielseitigkeit, welche Luther zum Manne seiner Zeit und seines Volkes machte; und es ist richtig: es hat nie einen Deutschen gegeben, der sein Volk so intuitio verstanden hätte und wiederum von der Nation so ganz erfaßt, ich möchte sagen, von ihr eingesogen worden wäre, wie dieser Augustinermönch in Wittenberg. Sinn und Geist der Deutschen war in seiner Hand, wie die Leier in der Hand eines Künstlers. Hatte er seinem Volke doch auch mehr ge¬ geben, als jemals in christlicher Zeit ein Mann seinem Volke gegeben hat: Sprache, Volkslehrbuch, Bibel, Kirchenlied; und alles, was die Gegner ihm zu erwiedern oder an die Seite zu stellen hatten, das nahm sich matt und kraft- und farblos ans neben seiner hinreißenden Beredtsamkeit. Sie stammelten, er redete. Nur er war es. der der deutschen Sprache, dem deutschen Geiste das unvergängliche Siegel seines Geistes aufgedrückt hat. und selbst diejenigen unter den Deutschen, die ihn von Grund der Seele verabscheuen als den gewaltigen Irrlehrer und Verführer der Nation, können nicht anders, sie müssen reden mit seinen Worten, müssen denken mit seinen Gedanken."*) Dies Urteil eines Katholiken aber muß der Protestant noch wesentlich ver¬ tiefen und erweitern. Dem Protestanten gilt der große Reformator als der Geburtshelfer der modernen Weltanschauung. Ist er doch der Befreier des Geistes. Herzens und Gewissens von aller Menschensatzung, der Zerbrecher des geisttötenden Joches der Formel und des Buchstabens, der Erneuerer der wahr¬ haft christlichen Sittlichkeit, welche aus der innersten Überzeugung erwächst an¬ statt jener Verflachung und Veräußerlichung durch die sogenannten guten Werke, die von einem Nebenmenschen auferlegt, von menschlicher Autorität ihrem Werte und ihrer Wirkung nach geschätzt werden. Luther gräbt das reine Evangelium aus all dein Schutt und Kehricht der Jahrhunderte hervor. Er macht den evangelischen *) Berge. M. Bnnmgnrten. Eine deutsche Reveille. Rostock, Hiustorff. 1383.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/389>, abgerufen am 29.06.2024.