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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Die Reichshauptstadt im Roman.

Körper war schuld, daß es dennoch volle fünf Tage dauerte, bis er den letzte"
Atemzug aushauchte. Waren diese Tage und Nächte nun auch für mich und die
sonstigen Angehörigen, die selten sein Bett verließen, über alle Beschreibung er¬
greifend und herzzerreißend, so bleiben sie mir doch eine teure, schöne Erinnerung,
denn süßer Friede lag unverändert in seinen Mienen, und während er halb bewußtlos
dalag, erkannte er mich noch bis zum vorletzten Tag, schlug oft seine lieben, klaren
Augen nach mir auf und zog mit mattem Arm meine Hand an seine Lippen.
Die Erinnerung an diese letzten Liebeszeichen werden mich, schmerzlich tröstend,
durchs fernere verödete Leben begleiten!




Die Reichshauptstadt im Roman.

^> aß Berlin Weltstadt im größten Sinne geworden ist, weiß jeder¬
mann, daß es ein andres Paris werden mochte und sich gewisse
Auffassungen der französischen Hauptstadt, vor allem die sichere
Selbstgenügsamkeit und die souveräne Gleichgiltigkeit gegen das,
I was auf geistigem Gebiete außerhalb der Mauern des Zentral-
punktes vorgeht und entsteht, anzueignen fucht, will vou mehr als einer Seite
behauptet werden. Die Unmöglichkeit aber, daß alles deutsche Leben in Berlin auf¬
gehen könne, stellt sich mit jedem neuen Tage neu heraus und braucht nicht
erst des breitern erörtert zu werden, und so wird wohl auch die Zeit fern
bleiben, wo der deutsche Roman seinen einzigen Schauplatz in der Reichshaupt¬
stadt findet. Fällt es doch selbst den englischen Romanschriftstellern nicht el",
ihren umfassenden Erfindungen durchgehend die Viermillionenstadt, die denn
doch noch in ganz anderm Sinne als unsre Reichshauptstadt Welten in sich
einschließt, zum Hintergrunde zu geben. Es würde eine verzweifelte Armut
unsrer Lebensdarsteller verraten, wenn ihnen die gesamte deutsche Welt in dem
Raume zwischen Friedrichshain und Tiergarten, Wedding und Hasenhaide auf-
ginge. Aber da diese Gefahr im Ernste nicht besteht, bleibt nur zu wünschen,
daß das große und mächtige Stück deutschen Lebens, das in der Reichshaupt¬
stadt konzentrirt ist, auch in der Dichtung zu bedeutender Erscheinung gelange.
Ansätze sind genug dazu vorhanden, ein wirklich groß angelegter, aus der ganzen
Tiefe des reichshauptstädtischen Lebens schöpfender Roman ist uns nicht bekannt.
Bedeutende Episoden und sehr zutreffende Einzelschilderungeu sind in erzählenden
Werken Friedrich Spielhagens, Theodor Fontanes, Karl Frenzels vorhanden.
Aber selbst die ausgedehnten Zeitromane Spielhagens geben doch nur ein sehr
unvollständiges Bild des Lebens und Treibens der größten deutschen Stadt,
und namentlich die ältern schieben die Fortschrittsmütter und Kammcrwciber in


Die Reichshauptstadt im Roman.

Körper war schuld, daß es dennoch volle fünf Tage dauerte, bis er den letzte»
Atemzug aushauchte. Waren diese Tage und Nächte nun auch für mich und die
sonstigen Angehörigen, die selten sein Bett verließen, über alle Beschreibung er¬
greifend und herzzerreißend, so bleiben sie mir doch eine teure, schöne Erinnerung,
denn süßer Friede lag unverändert in seinen Mienen, und während er halb bewußtlos
dalag, erkannte er mich noch bis zum vorletzten Tag, schlug oft seine lieben, klaren
Augen nach mir auf und zog mit mattem Arm meine Hand an seine Lippen.
Die Erinnerung an diese letzten Liebeszeichen werden mich, schmerzlich tröstend,
durchs fernere verödete Leben begleiten!




Die Reichshauptstadt im Roman.

^> aß Berlin Weltstadt im größten Sinne geworden ist, weiß jeder¬
mann, daß es ein andres Paris werden mochte und sich gewisse
Auffassungen der französischen Hauptstadt, vor allem die sichere
Selbstgenügsamkeit und die souveräne Gleichgiltigkeit gegen das,
I was auf geistigem Gebiete außerhalb der Mauern des Zentral-
punktes vorgeht und entsteht, anzueignen fucht, will vou mehr als einer Seite
behauptet werden. Die Unmöglichkeit aber, daß alles deutsche Leben in Berlin auf¬
gehen könne, stellt sich mit jedem neuen Tage neu heraus und braucht nicht
erst des breitern erörtert zu werden, und so wird wohl auch die Zeit fern
bleiben, wo der deutsche Roman seinen einzigen Schauplatz in der Reichshaupt¬
stadt findet. Fällt es doch selbst den englischen Romanschriftstellern nicht el»,
ihren umfassenden Erfindungen durchgehend die Viermillionenstadt, die denn
doch noch in ganz anderm Sinne als unsre Reichshauptstadt Welten in sich
einschließt, zum Hintergrunde zu geben. Es würde eine verzweifelte Armut
unsrer Lebensdarsteller verraten, wenn ihnen die gesamte deutsche Welt in dem
Raume zwischen Friedrichshain und Tiergarten, Wedding und Hasenhaide auf-
ginge. Aber da diese Gefahr im Ernste nicht besteht, bleibt nur zu wünschen,
daß das große und mächtige Stück deutschen Lebens, das in der Reichshaupt¬
stadt konzentrirt ist, auch in der Dichtung zu bedeutender Erscheinung gelange.
Ansätze sind genug dazu vorhanden, ein wirklich groß angelegter, aus der ganzen
Tiefe des reichshauptstädtischen Lebens schöpfender Roman ist uns nicht bekannt.
Bedeutende Episoden und sehr zutreffende Einzelschilderungeu sind in erzählenden
Werken Friedrich Spielhagens, Theodor Fontanes, Karl Frenzels vorhanden.
Aber selbst die ausgedehnten Zeitromane Spielhagens geben doch nur ein sehr
unvollständiges Bild des Lebens und Treibens der größten deutschen Stadt,
und namentlich die ältern schieben die Fortschrittsmütter und Kammcrwciber in


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[0038] Die Reichshauptstadt im Roman. Körper war schuld, daß es dennoch volle fünf Tage dauerte, bis er den letzte» Atemzug aushauchte. Waren diese Tage und Nächte nun auch für mich und die sonstigen Angehörigen, die selten sein Bett verließen, über alle Beschreibung er¬ greifend und herzzerreißend, so bleiben sie mir doch eine teure, schöne Erinnerung, denn süßer Friede lag unverändert in seinen Mienen, und während er halb bewußtlos dalag, erkannte er mich noch bis zum vorletzten Tag, schlug oft seine lieben, klaren Augen nach mir auf und zog mit mattem Arm meine Hand an seine Lippen. Die Erinnerung an diese letzten Liebeszeichen werden mich, schmerzlich tröstend, durchs fernere verödete Leben begleiten! Die Reichshauptstadt im Roman. ^> aß Berlin Weltstadt im größten Sinne geworden ist, weiß jeder¬ mann, daß es ein andres Paris werden mochte und sich gewisse Auffassungen der französischen Hauptstadt, vor allem die sichere Selbstgenügsamkeit und die souveräne Gleichgiltigkeit gegen das, I was auf geistigem Gebiete außerhalb der Mauern des Zentral- punktes vorgeht und entsteht, anzueignen fucht, will vou mehr als einer Seite behauptet werden. Die Unmöglichkeit aber, daß alles deutsche Leben in Berlin auf¬ gehen könne, stellt sich mit jedem neuen Tage neu heraus und braucht nicht erst des breitern erörtert zu werden, und so wird wohl auch die Zeit fern bleiben, wo der deutsche Roman seinen einzigen Schauplatz in der Reichshaupt¬ stadt findet. Fällt es doch selbst den englischen Romanschriftstellern nicht el», ihren umfassenden Erfindungen durchgehend die Viermillionenstadt, die denn doch noch in ganz anderm Sinne als unsre Reichshauptstadt Welten in sich einschließt, zum Hintergrunde zu geben. Es würde eine verzweifelte Armut unsrer Lebensdarsteller verraten, wenn ihnen die gesamte deutsche Welt in dem Raume zwischen Friedrichshain und Tiergarten, Wedding und Hasenhaide auf- ginge. Aber da diese Gefahr im Ernste nicht besteht, bleibt nur zu wünschen, daß das große und mächtige Stück deutschen Lebens, das in der Reichshaupt¬ stadt konzentrirt ist, auch in der Dichtung zu bedeutender Erscheinung gelange. Ansätze sind genug dazu vorhanden, ein wirklich groß angelegter, aus der ganzen Tiefe des reichshauptstädtischen Lebens schöpfender Roman ist uns nicht bekannt. Bedeutende Episoden und sehr zutreffende Einzelschilderungeu sind in erzählenden Werken Friedrich Spielhagens, Theodor Fontanes, Karl Frenzels vorhanden. Aber selbst die ausgedehnten Zeitromane Spielhagens geben doch nur ein sehr unvollständiges Bild des Lebens und Treibens der größten deutschen Stadt, und namentlich die ältern schieben die Fortschrittsmütter und Kammcrwciber in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/38>, abgerufen am 29.06.2024.