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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Goethe und die Roryphäen der heutigen Naturwissenschaft.

ist der Satz geradezu Unsinn. Denn wir erfahren nie, was in unsern Nerven
sich ereignet, sondern nur das, was im Raum ist, durch unsre Nervenreizung.

Nun will ich nicht behaupten, daß Goethe in Kants Erkenntnistheorie voll¬
ständig geschult gewesen sei, man kann sogar aus seinen Tagebüchern nachweisen,
daß er die Kritik der reinen Vernunft nicht völlig verstanden hatte -- aber
das ist ganz gewiß, daß er seine eignen Anschauungen in der Naturwissenschaft
stets konform mit den Kantischen hielt. Vom Wesen des Lichts zu reden, er¬
klärte er für bedenklich, der letzte Grund bleibe uns immer ein Geheimnis, man
müsse sich an die Beobachtung der Phänomene halten, d. h. der Veränderungen
des Lichts vom hellen durch das Reich der Farben zum dunkeln und umgekehrt.
Sein Standpunkt ist von vornherein dadurch gekennzeichnet, daß er das Licht
niemals als eine mechanischen Gesetzen folgende Materie auffaßt, sondern nur
als von uns Empfundenes, ohne nach den materiellen Ursachen desselben zu
fragen. Sein Ausgangspunkt für alle Farbenstudien war die gewaltige Wir¬
kung des Lichts und der Farben auf das menschliche Gemüt in Natur und
Kunst. Noch ehe er seine Beobachtungen in ein zusammenhängendes System
gebracht hatte, war ihm schon klar, daß Blau mit Schwarz verwandt sei und
Gelb mit Weiß in ihrer Wirkung auf unser Gemüt. Der entscheidende er¬
kenntnistheoretische Grund dafür ist erst in der jüngsten Zeit gebracht worden
(vgl. meine Abhandlung: Zur Psychologie der Farbenempfindung).

Keine Äußerung hat vielleicht Goethe so sehr in den Augen der Physiker
geschadet als die Worte des Faust:


Geheimnisvoll am lichten Tag

Läßt sich Natur des Schleiers nicht berauben,

Und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag,

Das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.


Diese Worte sind ernst gemeint und bilden mit die Einleitung zu jener Stim¬
mung der Verzweiflung, die den Faust die Giftphiole in die Hand nehmen läßt.
Da sieht man, heißt es, wie wenig Goethe von der Bedeutung und Benutzung
der physikalischen Instrumente verstand, mit denen wir doch täglich den Schleier
der Natur aufheben und ihre Geheimnisse enträtseln. Man übersah nur, daß
die vorhergehenden Verse heißen:


Ihr Instrumente freilich spottet mein,
'
Mit Rad und Kämmen, Walz und Bügel.
Ich stand am Thor, ihr solltet Schlüssel sein;
Zwar euer Bart ist kraus, doch hebt ihr nicht die Riegel.

Faust besaß eine Fülle von komplizirten physikalischen Instrumenten, und ob¬
wohl er mit ihrem Gebrauch vollständig vertraut war, erkannte er plötzlich, daß
sie ihm das Geheimnis, wonach er strebte, nicht erschließen würden. Das muß
denn doch wohl ein andres Geheimnis gewesen sein als ein solches, das durch


Goethe und die Roryphäen der heutigen Naturwissenschaft.

ist der Satz geradezu Unsinn. Denn wir erfahren nie, was in unsern Nerven
sich ereignet, sondern nur das, was im Raum ist, durch unsre Nervenreizung.

Nun will ich nicht behaupten, daß Goethe in Kants Erkenntnistheorie voll¬
ständig geschult gewesen sei, man kann sogar aus seinen Tagebüchern nachweisen,
daß er die Kritik der reinen Vernunft nicht völlig verstanden hatte — aber
das ist ganz gewiß, daß er seine eignen Anschauungen in der Naturwissenschaft
stets konform mit den Kantischen hielt. Vom Wesen des Lichts zu reden, er¬
klärte er für bedenklich, der letzte Grund bleibe uns immer ein Geheimnis, man
müsse sich an die Beobachtung der Phänomene halten, d. h. der Veränderungen
des Lichts vom hellen durch das Reich der Farben zum dunkeln und umgekehrt.
Sein Standpunkt ist von vornherein dadurch gekennzeichnet, daß er das Licht
niemals als eine mechanischen Gesetzen folgende Materie auffaßt, sondern nur
als von uns Empfundenes, ohne nach den materiellen Ursachen desselben zu
fragen. Sein Ausgangspunkt für alle Farbenstudien war die gewaltige Wir¬
kung des Lichts und der Farben auf das menschliche Gemüt in Natur und
Kunst. Noch ehe er seine Beobachtungen in ein zusammenhängendes System
gebracht hatte, war ihm schon klar, daß Blau mit Schwarz verwandt sei und
Gelb mit Weiß in ihrer Wirkung auf unser Gemüt. Der entscheidende er¬
kenntnistheoretische Grund dafür ist erst in der jüngsten Zeit gebracht worden
(vgl. meine Abhandlung: Zur Psychologie der Farbenempfindung).

Keine Äußerung hat vielleicht Goethe so sehr in den Augen der Physiker
geschadet als die Worte des Faust:


Geheimnisvoll am lichten Tag

Läßt sich Natur des Schleiers nicht berauben,

Und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag,

Das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.


Diese Worte sind ernst gemeint und bilden mit die Einleitung zu jener Stim¬
mung der Verzweiflung, die den Faust die Giftphiole in die Hand nehmen läßt.
Da sieht man, heißt es, wie wenig Goethe von der Bedeutung und Benutzung
der physikalischen Instrumente verstand, mit denen wir doch täglich den Schleier
der Natur aufheben und ihre Geheimnisse enträtseln. Man übersah nur, daß
die vorhergehenden Verse heißen:


Ihr Instrumente freilich spottet mein,
'
Mit Rad und Kämmen, Walz und Bügel.
Ich stand am Thor, ihr solltet Schlüssel sein;
Zwar euer Bart ist kraus, doch hebt ihr nicht die Riegel.

Faust besaß eine Fülle von komplizirten physikalischen Instrumenten, und ob¬
wohl er mit ihrem Gebrauch vollständig vertraut war, erkannte er plötzlich, daß
sie ihm das Geheimnis, wonach er strebte, nicht erschließen würden. Das muß
denn doch wohl ein andres Geheimnis gewesen sein als ein solches, das durch


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[0637] Goethe und die Roryphäen der heutigen Naturwissenschaft. ist der Satz geradezu Unsinn. Denn wir erfahren nie, was in unsern Nerven sich ereignet, sondern nur das, was im Raum ist, durch unsre Nervenreizung. Nun will ich nicht behaupten, daß Goethe in Kants Erkenntnistheorie voll¬ ständig geschult gewesen sei, man kann sogar aus seinen Tagebüchern nachweisen, daß er die Kritik der reinen Vernunft nicht völlig verstanden hatte — aber das ist ganz gewiß, daß er seine eignen Anschauungen in der Naturwissenschaft stets konform mit den Kantischen hielt. Vom Wesen des Lichts zu reden, er¬ klärte er für bedenklich, der letzte Grund bleibe uns immer ein Geheimnis, man müsse sich an die Beobachtung der Phänomene halten, d. h. der Veränderungen des Lichts vom hellen durch das Reich der Farben zum dunkeln und umgekehrt. Sein Standpunkt ist von vornherein dadurch gekennzeichnet, daß er das Licht niemals als eine mechanischen Gesetzen folgende Materie auffaßt, sondern nur als von uns Empfundenes, ohne nach den materiellen Ursachen desselben zu fragen. Sein Ausgangspunkt für alle Farbenstudien war die gewaltige Wir¬ kung des Lichts und der Farben auf das menschliche Gemüt in Natur und Kunst. Noch ehe er seine Beobachtungen in ein zusammenhängendes System gebracht hatte, war ihm schon klar, daß Blau mit Schwarz verwandt sei und Gelb mit Weiß in ihrer Wirkung auf unser Gemüt. Der entscheidende er¬ kenntnistheoretische Grund dafür ist erst in der jüngsten Zeit gebracht worden (vgl. meine Abhandlung: Zur Psychologie der Farbenempfindung). Keine Äußerung hat vielleicht Goethe so sehr in den Augen der Physiker geschadet als die Worte des Faust: Geheimnisvoll am lichten Tag Läßt sich Natur des Schleiers nicht berauben, Und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag, Das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben. Diese Worte sind ernst gemeint und bilden mit die Einleitung zu jener Stim¬ mung der Verzweiflung, die den Faust die Giftphiole in die Hand nehmen läßt. Da sieht man, heißt es, wie wenig Goethe von der Bedeutung und Benutzung der physikalischen Instrumente verstand, mit denen wir doch täglich den Schleier der Natur aufheben und ihre Geheimnisse enträtseln. Man übersah nur, daß die vorhergehenden Verse heißen: Ihr Instrumente freilich spottet mein, ' Mit Rad und Kämmen, Walz und Bügel. Ich stand am Thor, ihr solltet Schlüssel sein; Zwar euer Bart ist kraus, doch hebt ihr nicht die Riegel. Faust besaß eine Fülle von komplizirten physikalischen Instrumenten, und ob¬ wohl er mit ihrem Gebrauch vollständig vertraut war, erkannte er plötzlich, daß sie ihm das Geheimnis, wonach er strebte, nicht erschließen würden. Das muß denn doch wohl ein andres Geheimnis gewesen sein als ein solches, das durch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/637>, abgerufen am 22.07.2024.