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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Ein neuer Kommentar zu Goethes Gedichten.

eis sind wir Deutschen doch für el" beneidenswertes Volk! Da
haben wir nun glücklich den dritten Kommentar zu Goethes Ge¬
dichten, und der Goethcfrennd, der in seinen Mußestunden die
alten Lieblinge wieder in seiner Seele auffrischen will, wird von nun
an mit vier Büchern zu Hantiren daheim in die Mitte vor sich hin
wird er den Text legen -- da es eine wahrhaft schöne, Herz und Augen er¬
freuende Ausgabe nicht giebt, in der am wenigsten armseligen, die er besitzt--;
an die linke Seite wird der betreffende Band des Viehvffschen, obenhin
der zugehörige Band des Dnntzerschen Kommentars zu liegen kommen; die
rechte Seite aber wird von nun an der neue Locpersche Kommentar einnehmen,
dessen erster Teil in Form von "Anmerkungen" zum ersten Bande einer nen
begonnenen Goetheausgabe vor wenigen Wochen erschienen ist."') Dann wird
der Goethcfreund zunächst seinen Text aufschlagen und wird sich überzeugen, ob
er auch z. B. von "Wanderers Nachtlied"


Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch

noch jede Zeile fest im Gedächtnis habe und nicht etwa Gefahr laufe, in die
gemeinen Verballhornungen des großen Hansens "Unter allen Wipfeln" oder
"balde ruhest auch du" u. s. w. zu verfallen. Hierauf wird er zuerst Viehoffs
Erläuterungen zur Hand nehmen und sich daraus belehren, wie folgt:

Goethe dichtete diese Verse am 7. September 1783 auf dem Gickelhahn,
einem Berge bei Ilmenau, wo er sie mit Bleistift auf die hölzernen Fenster-
Pfosten des dortigen herzoglichen Sommerhäuschens schrieb. Sie entstände" (wie
auch das schöne Gedicht "Ilmenau" vom 3. September 1783) auf der ersten Ruhe-
stelle einer Erholungsreise, die ihn weiter nach der Roßtrappe, der Baumannshöhle,
auf den Brocken, nach Göttingen und Kassel führte. Die Buchstaben des Gedichts
sind später noch einmal mit Bleistift überzogen, und Goethe hat mit eigner Hand
darunter geschrieben: "Reu. (isnov^um) 29. Aug. 1813." Im Jahre 1831, am



*) Goethes Werke. Erster Band. Gedichte. Erster Teil. Mit Einleitungen und
Anmerkungen von G. von Loeper. Zweite Ausgabe. Berlin, 1382, G. Hempel.
Ein neuer Kommentar zu Goethes Gedichten.

eis sind wir Deutschen doch für el» beneidenswertes Volk! Da
haben wir nun glücklich den dritten Kommentar zu Goethes Ge¬
dichten, und der Goethcfrennd, der in seinen Mußestunden die
alten Lieblinge wieder in seiner Seele auffrischen will, wird von nun
an mit vier Büchern zu Hantiren daheim in die Mitte vor sich hin
wird er den Text legen — da es eine wahrhaft schöne, Herz und Augen er¬
freuende Ausgabe nicht giebt, in der am wenigsten armseligen, die er besitzt—;
an die linke Seite wird der betreffende Band des Viehvffschen, obenhin
der zugehörige Band des Dnntzerschen Kommentars zu liegen kommen; die
rechte Seite aber wird von nun an der neue Locpersche Kommentar einnehmen,
dessen erster Teil in Form von „Anmerkungen" zum ersten Bande einer nen
begonnenen Goetheausgabe vor wenigen Wochen erschienen ist."') Dann wird
der Goethcfreund zunächst seinen Text aufschlagen und wird sich überzeugen, ob
er auch z. B. von „Wanderers Nachtlied"


Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch

noch jede Zeile fest im Gedächtnis habe und nicht etwa Gefahr laufe, in die
gemeinen Verballhornungen des großen Hansens „Unter allen Wipfeln" oder
„balde ruhest auch du" u. s. w. zu verfallen. Hierauf wird er zuerst Viehoffs
Erläuterungen zur Hand nehmen und sich daraus belehren, wie folgt:

Goethe dichtete diese Verse am 7. September 1783 auf dem Gickelhahn,
einem Berge bei Ilmenau, wo er sie mit Bleistift auf die hölzernen Fenster-
Pfosten des dortigen herzoglichen Sommerhäuschens schrieb. Sie entstände» (wie
auch das schöne Gedicht „Ilmenau" vom 3. September 1783) auf der ersten Ruhe-
stelle einer Erholungsreise, die ihn weiter nach der Roßtrappe, der Baumannshöhle,
auf den Brocken, nach Göttingen und Kassel führte. Die Buchstaben des Gedichts
sind später noch einmal mit Bleistift überzogen, und Goethe hat mit eigner Hand
darunter geschrieben: „Reu. (isnov^um) 29. Aug. 1813." Im Jahre 1831, am



*) Goethes Werke. Erster Band. Gedichte. Erster Teil. Mit Einleitungen und
Anmerkungen von G. von Loeper. Zweite Ausgabe. Berlin, 1382, G. Hempel.
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[0509] Ein neuer Kommentar zu Goethes Gedichten. eis sind wir Deutschen doch für el» beneidenswertes Volk! Da haben wir nun glücklich den dritten Kommentar zu Goethes Ge¬ dichten, und der Goethcfrennd, der in seinen Mußestunden die alten Lieblinge wieder in seiner Seele auffrischen will, wird von nun an mit vier Büchern zu Hantiren daheim in die Mitte vor sich hin wird er den Text legen — da es eine wahrhaft schöne, Herz und Augen er¬ freuende Ausgabe nicht giebt, in der am wenigsten armseligen, die er besitzt—; an die linke Seite wird der betreffende Band des Viehvffschen, obenhin der zugehörige Band des Dnntzerschen Kommentars zu liegen kommen; die rechte Seite aber wird von nun an der neue Locpersche Kommentar einnehmen, dessen erster Teil in Form von „Anmerkungen" zum ersten Bande einer nen begonnenen Goetheausgabe vor wenigen Wochen erschienen ist."') Dann wird der Goethcfreund zunächst seinen Text aufschlagen und wird sich überzeugen, ob er auch z. B. von „Wanderers Nachtlied" Über allen Gipfeln Ist Ruh, In allen Wipfeln Spürest du Kaum einen Hauch; Die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur, balde Ruhest du auch noch jede Zeile fest im Gedächtnis habe und nicht etwa Gefahr laufe, in die gemeinen Verballhornungen des großen Hansens „Unter allen Wipfeln" oder „balde ruhest auch du" u. s. w. zu verfallen. Hierauf wird er zuerst Viehoffs Erläuterungen zur Hand nehmen und sich daraus belehren, wie folgt: Goethe dichtete diese Verse am 7. September 1783 auf dem Gickelhahn, einem Berge bei Ilmenau, wo er sie mit Bleistift auf die hölzernen Fenster- Pfosten des dortigen herzoglichen Sommerhäuschens schrieb. Sie entstände» (wie auch das schöne Gedicht „Ilmenau" vom 3. September 1783) auf der ersten Ruhe- stelle einer Erholungsreise, die ihn weiter nach der Roßtrappe, der Baumannshöhle, auf den Brocken, nach Göttingen und Kassel führte. Die Buchstaben des Gedichts sind später noch einmal mit Bleistift überzogen, und Goethe hat mit eigner Hand darunter geschrieben: „Reu. (isnov^um) 29. Aug. 1813." Im Jahre 1831, am *) Goethes Werke. Erster Band. Gedichte. Erster Teil. Mit Einleitungen und Anmerkungen von G. von Loeper. Zweite Ausgabe. Berlin, 1382, G. Hempel.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/509>, abgerufen am 22.07.2024.