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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Die Zukunft des deutschen Dramas.
von G. Härtung.

le Kunst ist bestrebt, uns in der Form des Schönen zu zeigen,
daß das Einzelne ein Bild des Allgemeinen sei. Indem sie so
ihr Augenmerk von vornherein immer auf ein Einzelnes richtet,
begiebt sie sich freiwillig des der Wissenschaft zustehenden Rechts,
das Allgemciiigiltige auch direkt in allgemein giltiger Form, als
Abstraktion, als Grundsatz in der Form des Gesetzes nuszusvrechen. Sie bedarf
des Anschaulichem, Individuellen, sie verbildlicht ihre Ideen. Selbst da, wo es
gilt, Strömungen der Zeit, Überzeugungen und Irrtümer eines Menschenalters
künstlerisch wiederzugeben, darf der Künstler kein andres Mittel kennen als
bildliche Darstellung. Er muß, was in Wahrheit einst im Geiste der Menschen
lebendig war, was ihre Handlungen bestimmte und ihre Schriften durchdringt,
wieder einbilden in frei erfundene Persönlichkeiten, wieder zu Beweggründen
menschlichen Handelns machen. So ist denn überall, wo er sich zu seinem in¬
teressantesten Stoffe, zum menschlichen Leben wendet, die Gestaltung von Indi¬
vidualitäten sein letztes Ziel. So wenig es aber abstrakte Menschen giebt, die
außer aller Beziehung zu der Zeit stehen, in der sie leben, so wenig kann auch
die Kunst jemals ganz frei sein vom Zeitcharakter. Am wenigsten die drama¬
tische. Nach Goethes Wort, das wie gewöhnlich bei aller Anspruchslosigkeit
den Nagel auf den Kopf trifft, sollen im Roman vorzugsweise Gesinnungen
und Begebenheiten, im Drama Charaktere und Thaten vorgestellt werden.
Handeln aber bedeutet allemal: nach Beweggründen handeln. Und ungleich der
Natur, in deren Bereich jede Wirkung an feste, weder qualitativ noch quantitativ
veränderliche Ursachen geknüpft ist, halten die Geschlechter der Menschen bald
diese, bald jene Beweggründe für die notwendige Voraussetzung dieser oder jener
Handlung. Damit ändert sich das Urteil über die Handlung selbst, und hierin
liegt ein Teil der Ursachen, weshalb dramatische Werke veralten können.

Es entspringt einer mangelhaften Einsicht in das sittliche Bewußtsein der
Gegenwart und einer Mißachtung des engen Zusammenhanges des Intellekts
mit dem Gemüt, wenn Buckle den sittlichen Fortschritt der Menschheit als
äußerst unbedeutend gegenüber dem intellektuellen bezeichnet. Möglich und Wohl
auch wahrscheinlich, daß heute noch ebenso viel Verbrechen begangen werden
wie zur Zeit Alexanders des Großen, gewiß aber auch, daß damals ebenso viel
kluge Gedanken gedacht wurden wie heute. Soviel ist über allen Zweifel er¬
haben, daß unser sittliches Empfinden aus andern Quellen strömt als das
hellenische der Gcschwisterehe und der Sklaverei. Die gebildete Minderzahl


Die Zukunft des deutschen Dramas.
von G. Härtung.

le Kunst ist bestrebt, uns in der Form des Schönen zu zeigen,
daß das Einzelne ein Bild des Allgemeinen sei. Indem sie so
ihr Augenmerk von vornherein immer auf ein Einzelnes richtet,
begiebt sie sich freiwillig des der Wissenschaft zustehenden Rechts,
das Allgemciiigiltige auch direkt in allgemein giltiger Form, als
Abstraktion, als Grundsatz in der Form des Gesetzes nuszusvrechen. Sie bedarf
des Anschaulichem, Individuellen, sie verbildlicht ihre Ideen. Selbst da, wo es
gilt, Strömungen der Zeit, Überzeugungen und Irrtümer eines Menschenalters
künstlerisch wiederzugeben, darf der Künstler kein andres Mittel kennen als
bildliche Darstellung. Er muß, was in Wahrheit einst im Geiste der Menschen
lebendig war, was ihre Handlungen bestimmte und ihre Schriften durchdringt,
wieder einbilden in frei erfundene Persönlichkeiten, wieder zu Beweggründen
menschlichen Handelns machen. So ist denn überall, wo er sich zu seinem in¬
teressantesten Stoffe, zum menschlichen Leben wendet, die Gestaltung von Indi¬
vidualitäten sein letztes Ziel. So wenig es aber abstrakte Menschen giebt, die
außer aller Beziehung zu der Zeit stehen, in der sie leben, so wenig kann auch
die Kunst jemals ganz frei sein vom Zeitcharakter. Am wenigsten die drama¬
tische. Nach Goethes Wort, das wie gewöhnlich bei aller Anspruchslosigkeit
den Nagel auf den Kopf trifft, sollen im Roman vorzugsweise Gesinnungen
und Begebenheiten, im Drama Charaktere und Thaten vorgestellt werden.
Handeln aber bedeutet allemal: nach Beweggründen handeln. Und ungleich der
Natur, in deren Bereich jede Wirkung an feste, weder qualitativ noch quantitativ
veränderliche Ursachen geknüpft ist, halten die Geschlechter der Menschen bald
diese, bald jene Beweggründe für die notwendige Voraussetzung dieser oder jener
Handlung. Damit ändert sich das Urteil über die Handlung selbst, und hierin
liegt ein Teil der Ursachen, weshalb dramatische Werke veralten können.

Es entspringt einer mangelhaften Einsicht in das sittliche Bewußtsein der
Gegenwart und einer Mißachtung des engen Zusammenhanges des Intellekts
mit dem Gemüt, wenn Buckle den sittlichen Fortschritt der Menschheit als
äußerst unbedeutend gegenüber dem intellektuellen bezeichnet. Möglich und Wohl
auch wahrscheinlich, daß heute noch ebenso viel Verbrechen begangen werden
wie zur Zeit Alexanders des Großen, gewiß aber auch, daß damals ebenso viel
kluge Gedanken gedacht wurden wie heute. Soviel ist über allen Zweifel er¬
haben, daß unser sittliches Empfinden aus andern Quellen strömt als das
hellenische der Gcschwisterehe und der Sklaverei. Die gebildete Minderzahl


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[0386] Die Zukunft des deutschen Dramas. von G. Härtung. le Kunst ist bestrebt, uns in der Form des Schönen zu zeigen, daß das Einzelne ein Bild des Allgemeinen sei. Indem sie so ihr Augenmerk von vornherein immer auf ein Einzelnes richtet, begiebt sie sich freiwillig des der Wissenschaft zustehenden Rechts, das Allgemciiigiltige auch direkt in allgemein giltiger Form, als Abstraktion, als Grundsatz in der Form des Gesetzes nuszusvrechen. Sie bedarf des Anschaulichem, Individuellen, sie verbildlicht ihre Ideen. Selbst da, wo es gilt, Strömungen der Zeit, Überzeugungen und Irrtümer eines Menschenalters künstlerisch wiederzugeben, darf der Künstler kein andres Mittel kennen als bildliche Darstellung. Er muß, was in Wahrheit einst im Geiste der Menschen lebendig war, was ihre Handlungen bestimmte und ihre Schriften durchdringt, wieder einbilden in frei erfundene Persönlichkeiten, wieder zu Beweggründen menschlichen Handelns machen. So ist denn überall, wo er sich zu seinem in¬ teressantesten Stoffe, zum menschlichen Leben wendet, die Gestaltung von Indi¬ vidualitäten sein letztes Ziel. So wenig es aber abstrakte Menschen giebt, die außer aller Beziehung zu der Zeit stehen, in der sie leben, so wenig kann auch die Kunst jemals ganz frei sein vom Zeitcharakter. Am wenigsten die drama¬ tische. Nach Goethes Wort, das wie gewöhnlich bei aller Anspruchslosigkeit den Nagel auf den Kopf trifft, sollen im Roman vorzugsweise Gesinnungen und Begebenheiten, im Drama Charaktere und Thaten vorgestellt werden. Handeln aber bedeutet allemal: nach Beweggründen handeln. Und ungleich der Natur, in deren Bereich jede Wirkung an feste, weder qualitativ noch quantitativ veränderliche Ursachen geknüpft ist, halten die Geschlechter der Menschen bald diese, bald jene Beweggründe für die notwendige Voraussetzung dieser oder jener Handlung. Damit ändert sich das Urteil über die Handlung selbst, und hierin liegt ein Teil der Ursachen, weshalb dramatische Werke veralten können. Es entspringt einer mangelhaften Einsicht in das sittliche Bewußtsein der Gegenwart und einer Mißachtung des engen Zusammenhanges des Intellekts mit dem Gemüt, wenn Buckle den sittlichen Fortschritt der Menschheit als äußerst unbedeutend gegenüber dem intellektuellen bezeichnet. Möglich und Wohl auch wahrscheinlich, daß heute noch ebenso viel Verbrechen begangen werden wie zur Zeit Alexanders des Großen, gewiß aber auch, daß damals ebenso viel kluge Gedanken gedacht wurden wie heute. Soviel ist über allen Zweifel er¬ haben, daß unser sittliches Empfinden aus andern Quellen strömt als das hellenische der Gcschwisterehe und der Sklaverei. Die gebildete Minderzahl

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/386>, abgerufen am 28.06.2024.