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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Mlhelm Raabe.

"Ich halte es immer noch >in>r nicht für
eme Geschichte ans diesem Jahrhundert.--
Doch ja -- ja wahrhaftig! Gottlob jn, es ist
doch eine aus ihm!" W, Rande, Howcrer,

meer dell zahlreichen fleißigen Erzählern der Gegenwart, die jahr¬
aus, jahrein mehrere Bände in die Well senden und das lesende
Publikum in Atem halten, finden sich poetische Talente so gut
wie bloße Routiniers, Wem? es für den Dichter und namentlich
für den Erzähler keine leichte Aufgabe ist, in sich selbst und zur
rechten Zeit zu spüren, daß der Drang der Lebcnsdarstellung in Gewohnheit
und unwillkürliche Anstachlnug der schaffenden Kraft übergeht, so ist es auch
für den Kritiker schwierig genug, die feine, viclgewnndene Grenzlinie scharf zu
erkennen, längs deren die rasche, leicht flüssige Produktion in Mache und öde
Vielschreiberei umschlägt. Auch mit dem Worte "Vielschreiber"" wird ja Mi߬
brauch getrieben, wie mit allen gestempelten Kunstwortcu. Denn noch hat nie¬
mand genau ergründet, wie weit der Kreis wirklichen Schaffens gezogen sein
kaun, und während kein Streit darum ist, daß Alexander Dumas oder Karl
Spindler ein mäßiges ursprüngliches Talent dnrch Vielschreibcrci verflacht und
verflüchtigt haben, wird man Bedenken tragen, Schriftsteller wie Lope de Vega,
Georges Sand oder Charles Dickens Vielschreiber zu nennen, obwohl die Zahl
ihrer Werke ins Ungeheure geht und gewisse Wirkungen der Überproduktion,
namentlich die Wiederholung der eignen Erfindungen und Gestalten, bei ihnen
nicht ausgeblieben sind. Es giebt ganz offenbar echt poetische Naturen, die sich
erst in einer gewissen Breite voll zu entfalten vermögen, deren Eigentümlichkeit
und künstlerische Aufgabe es bedingt, daß sie ihre Wcltciudrücke und Lebens-
auschciuuugeu kaleidoskopisch in rasch wechselnden, verschiedenen und doch wieder
entschieden einander ähnlichen Bildern darstellen. Freilich wird in solchem Falle
immer ein Überschuß des "Stoffs" über die "Form" (beides im Sinne Schillers
und Goethes verstanden) vorhanden sein, aber das ist ein Geschick, dem der
moderne Erzähler überhaupt nur in seltenen Fällen zu entrinnen vermag, und
geht mehr die künftige als die gegenwärtige Generation an. Wer heute nur
oder vorwiegend stoffartig interessirt, fesselt, ja erhebt und rührt, mag immer¬
hin das kommende Geschlecht, das dnrch keinen Reiz der Form zu ihm hinge¬
zogen werden wird, kalt lassen. Die Gegenwart kann darnach höchstens nebenher
fragen, sie hat es zunächst mit der unmittelbaren Wirkung zu thun, welche das


Mlhelm Raabe.

„Ich halte es immer noch >in>r nicht für
eme Geschichte ans diesem Jahrhundert.--
Doch ja — ja wahrhaftig! Gottlob jn, es ist
doch eine aus ihm!" W, Rande, Howcrer,

meer dell zahlreichen fleißigen Erzählern der Gegenwart, die jahr¬
aus, jahrein mehrere Bände in die Well senden und das lesende
Publikum in Atem halten, finden sich poetische Talente so gut
wie bloße Routiniers, Wem? es für den Dichter und namentlich
für den Erzähler keine leichte Aufgabe ist, in sich selbst und zur
rechten Zeit zu spüren, daß der Drang der Lebcnsdarstellung in Gewohnheit
und unwillkürliche Anstachlnug der schaffenden Kraft übergeht, so ist es auch
für den Kritiker schwierig genug, die feine, viclgewnndene Grenzlinie scharf zu
erkennen, längs deren die rasche, leicht flüssige Produktion in Mache und öde
Vielschreiberei umschlägt. Auch mit dem Worte „Vielschreiber»" wird ja Mi߬
brauch getrieben, wie mit allen gestempelten Kunstwortcu. Denn noch hat nie¬
mand genau ergründet, wie weit der Kreis wirklichen Schaffens gezogen sein
kaun, und während kein Streit darum ist, daß Alexander Dumas oder Karl
Spindler ein mäßiges ursprüngliches Talent dnrch Vielschreibcrci verflacht und
verflüchtigt haben, wird man Bedenken tragen, Schriftsteller wie Lope de Vega,
Georges Sand oder Charles Dickens Vielschreiber zu nennen, obwohl die Zahl
ihrer Werke ins Ungeheure geht und gewisse Wirkungen der Überproduktion,
namentlich die Wiederholung der eignen Erfindungen und Gestalten, bei ihnen
nicht ausgeblieben sind. Es giebt ganz offenbar echt poetische Naturen, die sich
erst in einer gewissen Breite voll zu entfalten vermögen, deren Eigentümlichkeit
und künstlerische Aufgabe es bedingt, daß sie ihre Wcltciudrücke und Lebens-
auschciuuugeu kaleidoskopisch in rasch wechselnden, verschiedenen und doch wieder
entschieden einander ähnlichen Bildern darstellen. Freilich wird in solchem Falle
immer ein Überschuß des „Stoffs" über die „Form" (beides im Sinne Schillers
und Goethes verstanden) vorhanden sein, aber das ist ein Geschick, dem der
moderne Erzähler überhaupt nur in seltenen Fällen zu entrinnen vermag, und
geht mehr die künftige als die gegenwärtige Generation an. Wer heute nur
oder vorwiegend stoffartig interessirt, fesselt, ja erhebt und rührt, mag immer¬
hin das kommende Geschlecht, das dnrch keinen Reiz der Form zu ihm hinge¬
zogen werden wird, kalt lassen. Die Gegenwart kann darnach höchstens nebenher
fragen, sie hat es zunächst mit der unmittelbaren Wirkung zu thun, welche das


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[0349] Mlhelm Raabe. „Ich halte es immer noch >in>r nicht für eme Geschichte ans diesem Jahrhundert.-- Doch ja — ja wahrhaftig! Gottlob jn, es ist doch eine aus ihm!" W, Rande, Howcrer, meer dell zahlreichen fleißigen Erzählern der Gegenwart, die jahr¬ aus, jahrein mehrere Bände in die Well senden und das lesende Publikum in Atem halten, finden sich poetische Talente so gut wie bloße Routiniers, Wem? es für den Dichter und namentlich für den Erzähler keine leichte Aufgabe ist, in sich selbst und zur rechten Zeit zu spüren, daß der Drang der Lebcnsdarstellung in Gewohnheit und unwillkürliche Anstachlnug der schaffenden Kraft übergeht, so ist es auch für den Kritiker schwierig genug, die feine, viclgewnndene Grenzlinie scharf zu erkennen, längs deren die rasche, leicht flüssige Produktion in Mache und öde Vielschreiberei umschlägt. Auch mit dem Worte „Vielschreiber»" wird ja Mi߬ brauch getrieben, wie mit allen gestempelten Kunstwortcu. Denn noch hat nie¬ mand genau ergründet, wie weit der Kreis wirklichen Schaffens gezogen sein kaun, und während kein Streit darum ist, daß Alexander Dumas oder Karl Spindler ein mäßiges ursprüngliches Talent dnrch Vielschreibcrci verflacht und verflüchtigt haben, wird man Bedenken tragen, Schriftsteller wie Lope de Vega, Georges Sand oder Charles Dickens Vielschreiber zu nennen, obwohl die Zahl ihrer Werke ins Ungeheure geht und gewisse Wirkungen der Überproduktion, namentlich die Wiederholung der eignen Erfindungen und Gestalten, bei ihnen nicht ausgeblieben sind. Es giebt ganz offenbar echt poetische Naturen, die sich erst in einer gewissen Breite voll zu entfalten vermögen, deren Eigentümlichkeit und künstlerische Aufgabe es bedingt, daß sie ihre Wcltciudrücke und Lebens- auschciuuugeu kaleidoskopisch in rasch wechselnden, verschiedenen und doch wieder entschieden einander ähnlichen Bildern darstellen. Freilich wird in solchem Falle immer ein Überschuß des „Stoffs" über die „Form" (beides im Sinne Schillers und Goethes verstanden) vorhanden sein, aber das ist ein Geschick, dem der moderne Erzähler überhaupt nur in seltenen Fällen zu entrinnen vermag, und geht mehr die künftige als die gegenwärtige Generation an. Wer heute nur oder vorwiegend stoffartig interessirt, fesselt, ja erhebt und rührt, mag immer¬ hin das kommende Geschlecht, das dnrch keinen Reiz der Form zu ihm hinge¬ zogen werden wird, kalt lassen. Die Gegenwart kann darnach höchstens nebenher fragen, sie hat es zunächst mit der unmittelbaren Wirkung zu thun, welche das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/349>, abgerufen am 22.07.2024.