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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Line neue Erkenntnistheorie.

So gehts weiter. Wir denken aber, das Angeführte genügt, um zu er¬
kennen, was daran ist, wenn oben versichert wurde, man habe sich von dem ge¬
scheiterten Versuche zur Erneuerung des Handelsvertrags "nicht in übler Laune"
zurückgezogen. Wer so prophezeit, muß sehr übel gelaunt sein.




Eine neue Erkenntnistheorie.

in hervorragendes Zeichen von dem tief und lebhaft gefühlten
Bedürfnis unsrer Zeit, Naturwissenschaft mit philosophischem
Denken zu vereinigen, ist ein vor kurzem erschienenes Buch von
C. F. Heman, Die Erscheinung der Dinge in der Wahrnehmung.
Eine analytische Untersuchung (Leipzig, I. C. Hinrichs, 1881.)
Leider erhebt es sich nicht über den Vorwurf, der bisher fast alle derartigen
Unternehmungen belastet, daß nämlich die Philosophen zu wenig Naturforscher
und die Naturforscher zu wenig Philosophen sind, um den richtigen Weg zu
jener Vereinigung finden zu können. Daß Kant allein beides im vollsten
Sinne gewesen, hat die Welt, dank seinen "großen" Nachfolgern, vergessen.
Ähnlich wie die Sage von Gutenberg meldet, daß er, als er nach zweihundert
Jahren vom Himmel herab gekommen und gesehen habe, was die Menschen für
einen Mißbrauch mit seiner Erfindung getrieben, den Wunsch geäußert habe,
er möchte die Vuchdruckerkuust nie erfunden haben, ähnlich könnte man von
Kant annehmen, daß, wenn er sähe, wie die Gelehrten seine "Kritik der reinen
Vernunft" verstanden und benutzt haben/ er lebhaft bedauern würde, sie ge¬
schrieben zu haben.

Auch von dem Verfasser der vorliegenden Schrift müssen wir hören, daß kein
Naturforscher, welcher der Materie objektive Realität zuschreibt, ein Kantianer
sein kann, denn: "Wie wäre es möglich gewesen, daß unter den Händen seiner
großen Nachfolger die Natur vollends zur Chimäre geworden wäre und die
Naturwissenschaft sich die willkürlichsteBehaudluug hätte gefallen lassen müssen?...
Noch hat die Kantsche Erkenntnistheorie die instinktive Abneigung des mensch¬
lichen Geistes nicht zu überwinden vermocht, und der Grund dafür liegt ebeu
in ihrer totalen Unnatttrlichkeit und Geschraubtheit.... Die Unverträglichkeit
dieser Theorie mit allem natürlichen Denken ist so stark, daß die Kantianer
selbst ihrem System und ihrer Theorie nicht tren bleiben können; "der In¬
halt -- so zitirt der Verfasser aus Volkelts Erkenntnistheorie Kants (1879) --
der Wahrnehmnngsbildcr, den sie doch nur als vorgestellten kennen und gelten
lassen dürfen, löst sich ihnen unwillkürlich los von der Funktion des Vorstellens,


Grenzboten I. 1382. Is
Line neue Erkenntnistheorie.

So gehts weiter. Wir denken aber, das Angeführte genügt, um zu er¬
kennen, was daran ist, wenn oben versichert wurde, man habe sich von dem ge¬
scheiterten Versuche zur Erneuerung des Handelsvertrags „nicht in übler Laune"
zurückgezogen. Wer so prophezeit, muß sehr übel gelaunt sein.




Eine neue Erkenntnistheorie.

in hervorragendes Zeichen von dem tief und lebhaft gefühlten
Bedürfnis unsrer Zeit, Naturwissenschaft mit philosophischem
Denken zu vereinigen, ist ein vor kurzem erschienenes Buch von
C. F. Heman, Die Erscheinung der Dinge in der Wahrnehmung.
Eine analytische Untersuchung (Leipzig, I. C. Hinrichs, 1881.)
Leider erhebt es sich nicht über den Vorwurf, der bisher fast alle derartigen
Unternehmungen belastet, daß nämlich die Philosophen zu wenig Naturforscher
und die Naturforscher zu wenig Philosophen sind, um den richtigen Weg zu
jener Vereinigung finden zu können. Daß Kant allein beides im vollsten
Sinne gewesen, hat die Welt, dank seinen „großen" Nachfolgern, vergessen.
Ähnlich wie die Sage von Gutenberg meldet, daß er, als er nach zweihundert
Jahren vom Himmel herab gekommen und gesehen habe, was die Menschen für
einen Mißbrauch mit seiner Erfindung getrieben, den Wunsch geäußert habe,
er möchte die Vuchdruckerkuust nie erfunden haben, ähnlich könnte man von
Kant annehmen, daß, wenn er sähe, wie die Gelehrten seine „Kritik der reinen
Vernunft" verstanden und benutzt haben/ er lebhaft bedauern würde, sie ge¬
schrieben zu haben.

Auch von dem Verfasser der vorliegenden Schrift müssen wir hören, daß kein
Naturforscher, welcher der Materie objektive Realität zuschreibt, ein Kantianer
sein kann, denn: „Wie wäre es möglich gewesen, daß unter den Händen seiner
großen Nachfolger die Natur vollends zur Chimäre geworden wäre und die
Naturwissenschaft sich die willkürlichsteBehaudluug hätte gefallen lassen müssen?...
Noch hat die Kantsche Erkenntnistheorie die instinktive Abneigung des mensch¬
lichen Geistes nicht zu überwinden vermocht, und der Grund dafür liegt ebeu
in ihrer totalen Unnatttrlichkeit und Geschraubtheit.... Die Unverträglichkeit
dieser Theorie mit allem natürlichen Denken ist so stark, daß die Kantianer
selbst ihrem System und ihrer Theorie nicht tren bleiben können; «der In¬
halt — so zitirt der Verfasser aus Volkelts Erkenntnistheorie Kants (1879) —
der Wahrnehmnngsbildcr, den sie doch nur als vorgestellten kennen und gelten
lassen dürfen, löst sich ihnen unwillkürlich los von der Funktion des Vorstellens,


Grenzboten I. 1382. Is
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[0121] Line neue Erkenntnistheorie. So gehts weiter. Wir denken aber, das Angeführte genügt, um zu er¬ kennen, was daran ist, wenn oben versichert wurde, man habe sich von dem ge¬ scheiterten Versuche zur Erneuerung des Handelsvertrags „nicht in übler Laune" zurückgezogen. Wer so prophezeit, muß sehr übel gelaunt sein. Eine neue Erkenntnistheorie. in hervorragendes Zeichen von dem tief und lebhaft gefühlten Bedürfnis unsrer Zeit, Naturwissenschaft mit philosophischem Denken zu vereinigen, ist ein vor kurzem erschienenes Buch von C. F. Heman, Die Erscheinung der Dinge in der Wahrnehmung. Eine analytische Untersuchung (Leipzig, I. C. Hinrichs, 1881.) Leider erhebt es sich nicht über den Vorwurf, der bisher fast alle derartigen Unternehmungen belastet, daß nämlich die Philosophen zu wenig Naturforscher und die Naturforscher zu wenig Philosophen sind, um den richtigen Weg zu jener Vereinigung finden zu können. Daß Kant allein beides im vollsten Sinne gewesen, hat die Welt, dank seinen „großen" Nachfolgern, vergessen. Ähnlich wie die Sage von Gutenberg meldet, daß er, als er nach zweihundert Jahren vom Himmel herab gekommen und gesehen habe, was die Menschen für einen Mißbrauch mit seiner Erfindung getrieben, den Wunsch geäußert habe, er möchte die Vuchdruckerkuust nie erfunden haben, ähnlich könnte man von Kant annehmen, daß, wenn er sähe, wie die Gelehrten seine „Kritik der reinen Vernunft" verstanden und benutzt haben/ er lebhaft bedauern würde, sie ge¬ schrieben zu haben. Auch von dem Verfasser der vorliegenden Schrift müssen wir hören, daß kein Naturforscher, welcher der Materie objektive Realität zuschreibt, ein Kantianer sein kann, denn: „Wie wäre es möglich gewesen, daß unter den Händen seiner großen Nachfolger die Natur vollends zur Chimäre geworden wäre und die Naturwissenschaft sich die willkürlichsteBehaudluug hätte gefallen lassen müssen?... Noch hat die Kantsche Erkenntnistheorie die instinktive Abneigung des mensch¬ lichen Geistes nicht zu überwinden vermocht, und der Grund dafür liegt ebeu in ihrer totalen Unnatttrlichkeit und Geschraubtheit.... Die Unverträglichkeit dieser Theorie mit allem natürlichen Denken ist so stark, daß die Kantianer selbst ihrem System und ihrer Theorie nicht tren bleiben können; «der In¬ halt — so zitirt der Verfasser aus Volkelts Erkenntnistheorie Kants (1879) — der Wahrnehmnngsbildcr, den sie doch nur als vorgestellten kennen und gelten lassen dürfen, löst sich ihnen unwillkürlich los von der Funktion des Vorstellens, Grenzboten I. 1382. Is

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/121>, abgerufen am 28.06.2024.