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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Thomas Carlyle.
2.

er Dämon Carlyles wie der manches andern neueren Schrift¬
stellers wurde die Politik. Er our zu eigenartig selbständig an¬
gelegt, um al? dem eigentlich politischen Leben der Zeit, an der
Herrschaft der Durchschnittsbildung und des Massenvorurteils
in parlamentarischen Versammlungen und in der Journalistik
dauernden Anteil nehmen zu können. Die Partei, der er mit Seele und Sinnen
angehört hätte, lag in der Vergangenheit, beziehungsweise in der Zukunft. Die
Art seiner Bildung und Anschauung, die gewaltige Auffassung, welche er von
den ersten und letzten Zwecken des Daseins hatte, verboten ihm bei aller Neigung
für "Wirklichkeiten" die Einmischung in die Vorfälle und Zufälligkeiten des
Tages. Und sicher hätte ein Schriftsteller, der wie Carlhle als Prophet vom Berge,
ja gelegentlich als zornblitzeuder Gott aus der Wolke zu seinem Volke sprach,
sich auss strengste jede Beteiligung an Dingen versagen sollen, die noch nicht klar
lagen und deren wahres Gesicht sich erst zeigen mußte. Allein der Einfluß der
englischen Gewohnheiten und gewisse Aufwallungen Carlyles waren stärker als
das Bewußtsein dieser Verpflichtung. Hie und da glaubte der reizbare und
überreizte Mann dennoch in den Tagesfragen das Wort ergreifen zu müssen.
Der Ingrimm über das, was liberales Geschwätz war oder was er so schalt,
die bittere Abneigung gegen falsche Humanität und Sentimentalität, der leiden¬
schaftliche Widerwille gegen alles pflichtlose Glückverlangen lebten tief in seiner
Seele und entluden sich bei Veranlassungen, welche so ungünstig als möglich
waren. Wer, der reinen Anteil ein Carlyle nahm und mit ihm des fröhlichen
Glaubens lebte, daß diese Welt "nicht auf Falschheit und Geschwätz, sondern auf
Wahrheit und Vernunft gegründet ist, daß nichts Gutes, das von irgend einem
der Geschöpfe Gottes vollbracht wurde, jemals verloren war oder sein wird,"
Hütte zustimmen mögen, wenn er sich verleiten ließ, für die Sache der ameri¬
kanischen Sklavenhalter einzutreten, wenn er dem Komitee prcisidirte, das den
Gouverneur Ehre von Jamaika und seine brutalen Grausamkeiten verteidigen
sollte, wenn er beim Ausbruch des russisch-türkischen Krieges von 1877 aus
keinem bessern Grunde für die Russen eintrat, als weil sie "das Talent des
Gehorsams, des schweigenden Folgeleistens, wenn ein Befehl gegeben wurde,
besitzen," was man bei der universellen Vergötterung des Stimmzettels, der
göttlichen Freiheit u. s. w. sür eine sehr wertvolle und charakteristische Gabe
halten müsse. Wer hätte Freude gewinnen können an der zur Manie ge¬
wordenen Lobpreisung der "Energie," unbekümmert darum, ob dieselbe von Ge-


Thomas Carlyle.
2.

er Dämon Carlyles wie der manches andern neueren Schrift¬
stellers wurde die Politik. Er our zu eigenartig selbständig an¬
gelegt, um al? dem eigentlich politischen Leben der Zeit, an der
Herrschaft der Durchschnittsbildung und des Massenvorurteils
in parlamentarischen Versammlungen und in der Journalistik
dauernden Anteil nehmen zu können. Die Partei, der er mit Seele und Sinnen
angehört hätte, lag in der Vergangenheit, beziehungsweise in der Zukunft. Die
Art seiner Bildung und Anschauung, die gewaltige Auffassung, welche er von
den ersten und letzten Zwecken des Daseins hatte, verboten ihm bei aller Neigung
für „Wirklichkeiten" die Einmischung in die Vorfälle und Zufälligkeiten des
Tages. Und sicher hätte ein Schriftsteller, der wie Carlhle als Prophet vom Berge,
ja gelegentlich als zornblitzeuder Gott aus der Wolke zu seinem Volke sprach,
sich auss strengste jede Beteiligung an Dingen versagen sollen, die noch nicht klar
lagen und deren wahres Gesicht sich erst zeigen mußte. Allein der Einfluß der
englischen Gewohnheiten und gewisse Aufwallungen Carlyles waren stärker als
das Bewußtsein dieser Verpflichtung. Hie und da glaubte der reizbare und
überreizte Mann dennoch in den Tagesfragen das Wort ergreifen zu müssen.
Der Ingrimm über das, was liberales Geschwätz war oder was er so schalt,
die bittere Abneigung gegen falsche Humanität und Sentimentalität, der leiden¬
schaftliche Widerwille gegen alles pflichtlose Glückverlangen lebten tief in seiner
Seele und entluden sich bei Veranlassungen, welche so ungünstig als möglich
waren. Wer, der reinen Anteil ein Carlyle nahm und mit ihm des fröhlichen
Glaubens lebte, daß diese Welt „nicht auf Falschheit und Geschwätz, sondern auf
Wahrheit und Vernunft gegründet ist, daß nichts Gutes, das von irgend einem
der Geschöpfe Gottes vollbracht wurde, jemals verloren war oder sein wird,"
Hütte zustimmen mögen, wenn er sich verleiten ließ, für die Sache der ameri¬
kanischen Sklavenhalter einzutreten, wenn er dem Komitee prcisidirte, das den
Gouverneur Ehre von Jamaika und seine brutalen Grausamkeiten verteidigen
sollte, wenn er beim Ausbruch des russisch-türkischen Krieges von 1877 aus
keinem bessern Grunde für die Russen eintrat, als weil sie „das Talent des
Gehorsams, des schweigenden Folgeleistens, wenn ein Befehl gegeben wurde,
besitzen," was man bei der universellen Vergötterung des Stimmzettels, der
göttlichen Freiheit u. s. w. sür eine sehr wertvolle und charakteristische Gabe
halten müsse. Wer hätte Freude gewinnen können an der zur Manie ge¬
wordenen Lobpreisung der „Energie," unbekümmert darum, ob dieselbe von Ge-


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[0076] Thomas Carlyle. 2. er Dämon Carlyles wie der manches andern neueren Schrift¬ stellers wurde die Politik. Er our zu eigenartig selbständig an¬ gelegt, um al? dem eigentlich politischen Leben der Zeit, an der Herrschaft der Durchschnittsbildung und des Massenvorurteils in parlamentarischen Versammlungen und in der Journalistik dauernden Anteil nehmen zu können. Die Partei, der er mit Seele und Sinnen angehört hätte, lag in der Vergangenheit, beziehungsweise in der Zukunft. Die Art seiner Bildung und Anschauung, die gewaltige Auffassung, welche er von den ersten und letzten Zwecken des Daseins hatte, verboten ihm bei aller Neigung für „Wirklichkeiten" die Einmischung in die Vorfälle und Zufälligkeiten des Tages. Und sicher hätte ein Schriftsteller, der wie Carlhle als Prophet vom Berge, ja gelegentlich als zornblitzeuder Gott aus der Wolke zu seinem Volke sprach, sich auss strengste jede Beteiligung an Dingen versagen sollen, die noch nicht klar lagen und deren wahres Gesicht sich erst zeigen mußte. Allein der Einfluß der englischen Gewohnheiten und gewisse Aufwallungen Carlyles waren stärker als das Bewußtsein dieser Verpflichtung. Hie und da glaubte der reizbare und überreizte Mann dennoch in den Tagesfragen das Wort ergreifen zu müssen. Der Ingrimm über das, was liberales Geschwätz war oder was er so schalt, die bittere Abneigung gegen falsche Humanität und Sentimentalität, der leiden¬ schaftliche Widerwille gegen alles pflichtlose Glückverlangen lebten tief in seiner Seele und entluden sich bei Veranlassungen, welche so ungünstig als möglich waren. Wer, der reinen Anteil ein Carlyle nahm und mit ihm des fröhlichen Glaubens lebte, daß diese Welt „nicht auf Falschheit und Geschwätz, sondern auf Wahrheit und Vernunft gegründet ist, daß nichts Gutes, das von irgend einem der Geschöpfe Gottes vollbracht wurde, jemals verloren war oder sein wird," Hütte zustimmen mögen, wenn er sich verleiten ließ, für die Sache der ameri¬ kanischen Sklavenhalter einzutreten, wenn er dem Komitee prcisidirte, das den Gouverneur Ehre von Jamaika und seine brutalen Grausamkeiten verteidigen sollte, wenn er beim Ausbruch des russisch-türkischen Krieges von 1877 aus keinem bessern Grunde für die Russen eintrat, als weil sie „das Talent des Gehorsams, des schweigenden Folgeleistens, wenn ein Befehl gegeben wurde, besitzen," was man bei der universellen Vergötterung des Stimmzettels, der göttlichen Freiheit u. s. w. sür eine sehr wertvolle und charakteristische Gabe halten müsse. Wer hätte Freude gewinnen können an der zur Manie ge¬ wordenen Lobpreisung der „Energie," unbekümmert darum, ob dieselbe von Ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/76>, abgerufen am 29.06.2024.