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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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Der jüngste Tag.

einzurichten, daß Julia von den übrigen getrennt wurde, und daß er ihr er¬
zählen konnte, er habe eine Unterhaltung mit dem jungen Weste gehabt.

Es war schmerzlich, sehr schmerzlich, sagte er. Ich glaube, ich thäte besser,
uicht mehr davon zu reden.

Warum? fragte Julia erschrocken.

Nun, ich fühle, daß Ihr Kummer mein Kummer ist. Niemals habe ich
soviel Interesse an jemand genommen, und ich muß sagen, ich bin traurig ent¬
täuscht wordeu. Dieser junge Mann ist Ihrer durchaus nicht würdig.

Was meinen Sie damit? Und in ihrem Tone lag ein Etwas, das wie
Entrüstung klang.

Mir scheint es, daß der Mann, der von Ihnen geliebt wird, der glück¬
lichste auf Erden sein sollte; aber er weigerte sich, Ihnen irgendwelche Botschaft
sagen zu lassen und bemerkte, er werde Ihnen bald eine Lossprechung von aller
Verpflichtung gegen ihn zusenden. Er zeigte nichts von Zärtlichkeit und erkun¬
digte sich nach nichts.

Das schwächste Weib und das stärkste kann in Ohnmacht fallen. Es ist
die letzte Zuflucht des Weibes. Wenn alles andre dahin ist, bleibt noch dies.
Julia holte rasch und tief Atem und war eben im Begriffe, das Bewußtsein zu
verlieren. Humphreys breitete die Arme aus, um sie aufzufangen, aber die plötz¬
liche Erinnerung, daß er, falls sie ohnmächtig geworden, sie ins Haus tragen
würde, brachte eine Reaktion hervor. Sie machte sich von ihm los und eilte
allein hinein, schloß die Thür ab und verweigerte ihrer Mutter den Eintritt.
Von Hnmphrehs, der seinen Ton ans ein zartes Moll gestimmt, erfuhr Frau
Anderson soviel von der Unterhaltung, als ihm gutdünkte. Sie öffnete und
las dann ein Billet, das ihr ein Nachbar in die Hand gedrückt, als sie aus
der Versammlung gekommen waren. Es war an Julien gerichtet und lautete:

Wenn alles, was die Leute sagen, wahr ist, so bist du rasch andern Sinnes
geworden. Ich halte dich nicht an Versprechungen fest, welche du zu brechen
wünschest.

August Weste.

Frau Anderson kannte kein Erbarmen. Sie zögerte nicht einen Augenblick.
Juliens Thür war geschlossen. Aber sie ging hinaus nach der obern Veranda
vor dem Hause und stieß, so rücksichtslos wie sie den Einbruch in Betreff ihres
Privatbriefs begangen, das Fenster ihrer Tochter anf, sah sie, die schluchzend
auf dem Bette lag, einen Augenblick an und warf darauf den Brief ins Zimmer,
indem sie sagte: Da. Es ist gut für dich. Lies das und steh, was für ein
Mensch dein' Dntchman ist.

Dann suchte Frau Anderson ihr Lager auf und schlief mit dem behaglich
heitern Gefühl ein, ihre Pflicht als Mutter erfüllt zu haben, komme davon,
was da wolle.




Dreizehntes Aapitel.
Die spinne spinnt.

Julia stand den Augenblick, wo ihre Mutter gegangen war, von ihrem
Bette auf. Ihr erstes Gefühl war, daß man schändlich in ihre Privatangelegen¬
heiten eingedrungen sei. Eine wahre Mutter sollte sogar die Reserve des Kindes
achten und in Ehren halten. Aber Julia war jetzt' ein Weib, erwachsen und


Der jüngste Tag.

einzurichten, daß Julia von den übrigen getrennt wurde, und daß er ihr er¬
zählen konnte, er habe eine Unterhaltung mit dem jungen Weste gehabt.

Es war schmerzlich, sehr schmerzlich, sagte er. Ich glaube, ich thäte besser,
uicht mehr davon zu reden.

Warum? fragte Julia erschrocken.

Nun, ich fühle, daß Ihr Kummer mein Kummer ist. Niemals habe ich
soviel Interesse an jemand genommen, und ich muß sagen, ich bin traurig ent¬
täuscht wordeu. Dieser junge Mann ist Ihrer durchaus nicht würdig.

Was meinen Sie damit? Und in ihrem Tone lag ein Etwas, das wie
Entrüstung klang.

Mir scheint es, daß der Mann, der von Ihnen geliebt wird, der glück¬
lichste auf Erden sein sollte; aber er weigerte sich, Ihnen irgendwelche Botschaft
sagen zu lassen und bemerkte, er werde Ihnen bald eine Lossprechung von aller
Verpflichtung gegen ihn zusenden. Er zeigte nichts von Zärtlichkeit und erkun¬
digte sich nach nichts.

Das schwächste Weib und das stärkste kann in Ohnmacht fallen. Es ist
die letzte Zuflucht des Weibes. Wenn alles andre dahin ist, bleibt noch dies.
Julia holte rasch und tief Atem und war eben im Begriffe, das Bewußtsein zu
verlieren. Humphreys breitete die Arme aus, um sie aufzufangen, aber die plötz¬
liche Erinnerung, daß er, falls sie ohnmächtig geworden, sie ins Haus tragen
würde, brachte eine Reaktion hervor. Sie machte sich von ihm los und eilte
allein hinein, schloß die Thür ab und verweigerte ihrer Mutter den Eintritt.
Von Hnmphrehs, der seinen Ton ans ein zartes Moll gestimmt, erfuhr Frau
Anderson soviel von der Unterhaltung, als ihm gutdünkte. Sie öffnete und
las dann ein Billet, das ihr ein Nachbar in die Hand gedrückt, als sie aus
der Versammlung gekommen waren. Es war an Julien gerichtet und lautete:

Wenn alles, was die Leute sagen, wahr ist, so bist du rasch andern Sinnes
geworden. Ich halte dich nicht an Versprechungen fest, welche du zu brechen
wünschest.

August Weste.

Frau Anderson kannte kein Erbarmen. Sie zögerte nicht einen Augenblick.
Juliens Thür war geschlossen. Aber sie ging hinaus nach der obern Veranda
vor dem Hause und stieß, so rücksichtslos wie sie den Einbruch in Betreff ihres
Privatbriefs begangen, das Fenster ihrer Tochter anf, sah sie, die schluchzend
auf dem Bette lag, einen Augenblick an und warf darauf den Brief ins Zimmer,
indem sie sagte: Da. Es ist gut für dich. Lies das und steh, was für ein
Mensch dein' Dntchman ist.

Dann suchte Frau Anderson ihr Lager auf und schlief mit dem behaglich
heitern Gefühl ein, ihre Pflicht als Mutter erfüllt zu haben, komme davon,
was da wolle.




Dreizehntes Aapitel.
Die spinne spinnt.

Julia stand den Augenblick, wo ihre Mutter gegangen war, von ihrem
Bette auf. Ihr erstes Gefühl war, daß man schändlich in ihre Privatangelegen¬
heiten eingedrungen sei. Eine wahre Mutter sollte sogar die Reserve des Kindes
achten und in Ehren halten. Aber Julia war jetzt' ein Weib, erwachsen und


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[0388] Der jüngste Tag. einzurichten, daß Julia von den übrigen getrennt wurde, und daß er ihr er¬ zählen konnte, er habe eine Unterhaltung mit dem jungen Weste gehabt. Es war schmerzlich, sehr schmerzlich, sagte er. Ich glaube, ich thäte besser, uicht mehr davon zu reden. Warum? fragte Julia erschrocken. Nun, ich fühle, daß Ihr Kummer mein Kummer ist. Niemals habe ich soviel Interesse an jemand genommen, und ich muß sagen, ich bin traurig ent¬ täuscht wordeu. Dieser junge Mann ist Ihrer durchaus nicht würdig. Was meinen Sie damit? Und in ihrem Tone lag ein Etwas, das wie Entrüstung klang. Mir scheint es, daß der Mann, der von Ihnen geliebt wird, der glück¬ lichste auf Erden sein sollte; aber er weigerte sich, Ihnen irgendwelche Botschaft sagen zu lassen und bemerkte, er werde Ihnen bald eine Lossprechung von aller Verpflichtung gegen ihn zusenden. Er zeigte nichts von Zärtlichkeit und erkun¬ digte sich nach nichts. Das schwächste Weib und das stärkste kann in Ohnmacht fallen. Es ist die letzte Zuflucht des Weibes. Wenn alles andre dahin ist, bleibt noch dies. Julia holte rasch und tief Atem und war eben im Begriffe, das Bewußtsein zu verlieren. Humphreys breitete die Arme aus, um sie aufzufangen, aber die plötz¬ liche Erinnerung, daß er, falls sie ohnmächtig geworden, sie ins Haus tragen würde, brachte eine Reaktion hervor. Sie machte sich von ihm los und eilte allein hinein, schloß die Thür ab und verweigerte ihrer Mutter den Eintritt. Von Hnmphrehs, der seinen Ton ans ein zartes Moll gestimmt, erfuhr Frau Anderson soviel von der Unterhaltung, als ihm gutdünkte. Sie öffnete und las dann ein Billet, das ihr ein Nachbar in die Hand gedrückt, als sie aus der Versammlung gekommen waren. Es war an Julien gerichtet und lautete: Wenn alles, was die Leute sagen, wahr ist, so bist du rasch andern Sinnes geworden. Ich halte dich nicht an Versprechungen fest, welche du zu brechen wünschest. August Weste. Frau Anderson kannte kein Erbarmen. Sie zögerte nicht einen Augenblick. Juliens Thür war geschlossen. Aber sie ging hinaus nach der obern Veranda vor dem Hause und stieß, so rücksichtslos wie sie den Einbruch in Betreff ihres Privatbriefs begangen, das Fenster ihrer Tochter anf, sah sie, die schluchzend auf dem Bette lag, einen Augenblick an und warf darauf den Brief ins Zimmer, indem sie sagte: Da. Es ist gut für dich. Lies das und steh, was für ein Mensch dein' Dntchman ist. Dann suchte Frau Anderson ihr Lager auf und schlief mit dem behaglich heitern Gefühl ein, ihre Pflicht als Mutter erfüllt zu haben, komme davon, was da wolle. Dreizehntes Aapitel. Die spinne spinnt. Julia stand den Augenblick, wo ihre Mutter gegangen war, von ihrem Bette auf. Ihr erstes Gefühl war, daß man schändlich in ihre Privatangelegen¬ heiten eingedrungen sei. Eine wahre Mutter sollte sogar die Reserve des Kindes achten und in Ehren halten. Aber Julia war jetzt' ein Weib, erwachsen und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/388>, abgerufen am 24.08.2024.