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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Paul Heyse.
i.

in Weisen mehrerer Facultäten und die Aesthetiker vieler Grade
wissen es zu rühmen, daß Cultur und Wesen einer ganzen Zeit,
die Summe ihres Lebens aus den Dichtern eben dieser Zeit, so
fern es nur die rechten gewesen sind, herauszulesen seien. Die
naheliegende Folgerung jedoch, daß dann die Menschen unsrer Tage
einige Belehrung über ihr eigenstes Wollen und Fühlen aus den lebendigen,
augenblicklich noch nicht commentirten Dichtern zu gewinnen vermöchten, wollen
sie nicht gern zugeben. Denn das rechte Verständniß sür diese historische
Seite poetischer Schöpfungen scheint ja erst anzuheben, wenn es mit jeder
lebendigen, unmittelbaren künstlerischen Wirkung, mit dem geringgeschätzten "bloßen
Genuß" zu Ende ist. Auf alle Fälle soll die simple Wahrheit vom innern Zu¬
sammenhang der Zeit und der Dichtung, von der unbewußten und der gewollten
Wiederspiegluug des ganzen Lebens in guten poetischen Schöpfungen doch wieder
nur sür gewisse Zeiten zutreffen, unter denen sich, wie männiglich bekannt, die
unsre nicht befinde. Wir haben, lautet die Beweisführung, eine Tendenzliteratur,
die völlig Product des Augenblicks, die alles in der Welt, nur keine Poesie ist
und wahrlich weder sich selbst für Poesie erachtet, noch von ihren jeder poetischen
Sehnsucht baren Lesern dafür erachtet wird. Wir haben einzelne Dichter, die
wissen, was Dichtung ist und heißt, aber eben darum zur unfruchtbaren Repro-
duction von Erfindungen, Empfindungen, Stimmungen und Formen verurtheilt
sind, welche andern Zeiten angehören, Akademiker, welche nicht die Macht des
Lebens, sondern die Macht einer großen künstlerischen Tradition erweisen.

Wie flach auch dies Rnisonnemcnt sei -- nachgebetet wird es in großen
Kreisen doch. Es hat Perioden gegeben, die an poetischem Talent, an Können
weit tiefer standen als die unsrige, aber in keiner Periode zuvor ist die Zuversicht,
daß man arm sei an Poesie und nichts rechtes vermöge, so wie jetzt als eine
Art Genugthuung empfunden worden. Eine bestimmte Form und Richtung
unsrer Bildung beruhigt sich bei der Gewohnheit, mit der oben angedeuteten Be¬
weisführung alles diesre Interesse an der Dichtung der Gegenwart abzulehnen.
Der erfolgreiche Autor ist entweder ein Tendenzbclletrist oder ein Akademiker;
jn derselbe Dichter wird das einemal unter ersterm, das andremal unter letzterm
Titel der Vergänglichkeit geweiht. Hinter diesem flachen Mißurtheil verbirgt sich
zumeist der Wunsch, Schöpfungen, die man im einzelnen zu genießen nicht nnter-


Paul Heyse.
i.

in Weisen mehrerer Facultäten und die Aesthetiker vieler Grade
wissen es zu rühmen, daß Cultur und Wesen einer ganzen Zeit,
die Summe ihres Lebens aus den Dichtern eben dieser Zeit, so
fern es nur die rechten gewesen sind, herauszulesen seien. Die
naheliegende Folgerung jedoch, daß dann die Menschen unsrer Tage
einige Belehrung über ihr eigenstes Wollen und Fühlen aus den lebendigen,
augenblicklich noch nicht commentirten Dichtern zu gewinnen vermöchten, wollen
sie nicht gern zugeben. Denn das rechte Verständniß sür diese historische
Seite poetischer Schöpfungen scheint ja erst anzuheben, wenn es mit jeder
lebendigen, unmittelbaren künstlerischen Wirkung, mit dem geringgeschätzten „bloßen
Genuß" zu Ende ist. Auf alle Fälle soll die simple Wahrheit vom innern Zu¬
sammenhang der Zeit und der Dichtung, von der unbewußten und der gewollten
Wiederspiegluug des ganzen Lebens in guten poetischen Schöpfungen doch wieder
nur sür gewisse Zeiten zutreffen, unter denen sich, wie männiglich bekannt, die
unsre nicht befinde. Wir haben, lautet die Beweisführung, eine Tendenzliteratur,
die völlig Product des Augenblicks, die alles in der Welt, nur keine Poesie ist
und wahrlich weder sich selbst für Poesie erachtet, noch von ihren jeder poetischen
Sehnsucht baren Lesern dafür erachtet wird. Wir haben einzelne Dichter, die
wissen, was Dichtung ist und heißt, aber eben darum zur unfruchtbaren Repro-
duction von Erfindungen, Empfindungen, Stimmungen und Formen verurtheilt
sind, welche andern Zeiten angehören, Akademiker, welche nicht die Macht des
Lebens, sondern die Macht einer großen künstlerischen Tradition erweisen.

Wie flach auch dies Rnisonnemcnt sei — nachgebetet wird es in großen
Kreisen doch. Es hat Perioden gegeben, die an poetischem Talent, an Können
weit tiefer standen als die unsrige, aber in keiner Periode zuvor ist die Zuversicht,
daß man arm sei an Poesie und nichts rechtes vermöge, so wie jetzt als eine
Art Genugthuung empfunden worden. Eine bestimmte Form und Richtung
unsrer Bildung beruhigt sich bei der Gewohnheit, mit der oben angedeuteten Be¬
weisführung alles diesre Interesse an der Dichtung der Gegenwart abzulehnen.
Der erfolgreiche Autor ist entweder ein Tendenzbclletrist oder ein Akademiker;
jn derselbe Dichter wird das einemal unter ersterm, das andremal unter letzterm
Titel der Vergänglichkeit geweiht. Hinter diesem flachen Mißurtheil verbirgt sich
zumeist der Wunsch, Schöpfungen, die man im einzelnen zu genießen nicht nnter-


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[0371] Paul Heyse. i. in Weisen mehrerer Facultäten und die Aesthetiker vieler Grade wissen es zu rühmen, daß Cultur und Wesen einer ganzen Zeit, die Summe ihres Lebens aus den Dichtern eben dieser Zeit, so fern es nur die rechten gewesen sind, herauszulesen seien. Die naheliegende Folgerung jedoch, daß dann die Menschen unsrer Tage einige Belehrung über ihr eigenstes Wollen und Fühlen aus den lebendigen, augenblicklich noch nicht commentirten Dichtern zu gewinnen vermöchten, wollen sie nicht gern zugeben. Denn das rechte Verständniß sür diese historische Seite poetischer Schöpfungen scheint ja erst anzuheben, wenn es mit jeder lebendigen, unmittelbaren künstlerischen Wirkung, mit dem geringgeschätzten „bloßen Genuß" zu Ende ist. Auf alle Fälle soll die simple Wahrheit vom innern Zu¬ sammenhang der Zeit und der Dichtung, von der unbewußten und der gewollten Wiederspiegluug des ganzen Lebens in guten poetischen Schöpfungen doch wieder nur sür gewisse Zeiten zutreffen, unter denen sich, wie männiglich bekannt, die unsre nicht befinde. Wir haben, lautet die Beweisführung, eine Tendenzliteratur, die völlig Product des Augenblicks, die alles in der Welt, nur keine Poesie ist und wahrlich weder sich selbst für Poesie erachtet, noch von ihren jeder poetischen Sehnsucht baren Lesern dafür erachtet wird. Wir haben einzelne Dichter, die wissen, was Dichtung ist und heißt, aber eben darum zur unfruchtbaren Repro- duction von Erfindungen, Empfindungen, Stimmungen und Formen verurtheilt sind, welche andern Zeiten angehören, Akademiker, welche nicht die Macht des Lebens, sondern die Macht einer großen künstlerischen Tradition erweisen. Wie flach auch dies Rnisonnemcnt sei — nachgebetet wird es in großen Kreisen doch. Es hat Perioden gegeben, die an poetischem Talent, an Können weit tiefer standen als die unsrige, aber in keiner Periode zuvor ist die Zuversicht, daß man arm sei an Poesie und nichts rechtes vermöge, so wie jetzt als eine Art Genugthuung empfunden worden. Eine bestimmte Form und Richtung unsrer Bildung beruhigt sich bei der Gewohnheit, mit der oben angedeuteten Be¬ weisführung alles diesre Interesse an der Dichtung der Gegenwart abzulehnen. Der erfolgreiche Autor ist entweder ein Tendenzbclletrist oder ein Akademiker; jn derselbe Dichter wird das einemal unter ersterm, das andremal unter letzterm Titel der Vergänglichkeit geweiht. Hinter diesem flachen Mißurtheil verbirgt sich zumeist der Wunsch, Schöpfungen, die man im einzelnen zu genießen nicht nnter-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/371>, abgerufen am 29.06.2024.