Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Streit um Tunis.

sittlichen und intellektuellen Capitales willen, das in dem Liberalismus ange¬
legt ist, in hohem Grade zu bedauern. Ertragen aber würde die deutsche Nation
doch noch eher den Verlust dieses Capitals als seine Verwendung und gesteigerte
Wirksamkeit in einer verderblichen Richtung.




Der streit um Tunis.

le orientalische Frage ist unsterblich. Sie ist eine Hydra mit hundert
Köpfen. Kaum scheint sie in Gestalt des griechisch-türkischen Grenz¬
streites nach langen Anstrengungen der Mächte und vielem Wider¬
streben der beiden Parteien gelöst und von der Tagesordnung ver¬
schwunden, so taucht sie als tunesische Frage wieder am Horizonte
aus und wird, anfangs nur ein schwarzer Punkt, täglich größer und zuletzt eine
Wolke, die nach Gewittern aussieht.

Tunis ist ein entferntes Land, und Fragen, die dort spiele", scheinen uns
wenig anzugehen. Bei der Stellung indeß, welche das heutige Deutschland in
der europäischen Staatengrnppe einnimmt, ist keine politische Frage für uns völlig
gleichgiltig, also auch diese nicht, zumal da sie für zwei von unsern unmittel¬
baren Nachbarn von großer Bedeutung ist, und so werden wir uns mit ihr
einigermaßen eingehend beschäftigen müssen.

Das Beylik Tunis ist ein Vasallenstaat des türkischen Reiches, der, ungefähr
2500 Quadratmeilen groß, in Nordafrika liegt und im Westen von Algerien,
im Norden und Osten vom Mittelmeer und im Süden von Tripolis und der
Sahara begrenzt wird. Der etwa 125 Meilen lange Küstensaum ist im Osten
flach und sandig, im Norte" meist bergig, indem der Atlas das Land in langen
Ketten mit breiten Thälern durchzieht. Die See tritt in zahlreichen tiefen Buchte"
unter schroff abfallenden Vorgebirgen in das Land hinei". Der Süden gehört
zur Steppe von Bileduldjerid und wird zum Theil von Salzseen eingenommen.
Die fließenden Gewässer haben meist einen kurzen Lauf und sind nicht schiffbar,
der größte Fluß ist der Medjerda, der dem Bugrades der Alten entspricht. Die
zum Betriebe der Landwirthschaft geeigneten Gegenden sind großentheils sehr
fruchtbar und reich an Vieh. Man erbaut Getreide, Oel, Südfrüchte und etwas


Der Streit um Tunis.

sittlichen und intellektuellen Capitales willen, das in dem Liberalismus ange¬
legt ist, in hohem Grade zu bedauern. Ertragen aber würde die deutsche Nation
doch noch eher den Verlust dieses Capitals als seine Verwendung und gesteigerte
Wirksamkeit in einer verderblichen Richtung.




Der streit um Tunis.

le orientalische Frage ist unsterblich. Sie ist eine Hydra mit hundert
Köpfen. Kaum scheint sie in Gestalt des griechisch-türkischen Grenz¬
streites nach langen Anstrengungen der Mächte und vielem Wider¬
streben der beiden Parteien gelöst und von der Tagesordnung ver¬
schwunden, so taucht sie als tunesische Frage wieder am Horizonte
aus und wird, anfangs nur ein schwarzer Punkt, täglich größer und zuletzt eine
Wolke, die nach Gewittern aussieht.

Tunis ist ein entferntes Land, und Fragen, die dort spiele», scheinen uns
wenig anzugehen. Bei der Stellung indeß, welche das heutige Deutschland in
der europäischen Staatengrnppe einnimmt, ist keine politische Frage für uns völlig
gleichgiltig, also auch diese nicht, zumal da sie für zwei von unsern unmittel¬
baren Nachbarn von großer Bedeutung ist, und so werden wir uns mit ihr
einigermaßen eingehend beschäftigen müssen.

Das Beylik Tunis ist ein Vasallenstaat des türkischen Reiches, der, ungefähr
2500 Quadratmeilen groß, in Nordafrika liegt und im Westen von Algerien,
im Norden und Osten vom Mittelmeer und im Süden von Tripolis und der
Sahara begrenzt wird. Der etwa 125 Meilen lange Küstensaum ist im Osten
flach und sandig, im Norte» meist bergig, indem der Atlas das Land in langen
Ketten mit breiten Thälern durchzieht. Die See tritt in zahlreichen tiefen Buchte»
unter schroff abfallenden Vorgebirgen in das Land hinei». Der Süden gehört
zur Steppe von Bileduldjerid und wird zum Theil von Salzseen eingenommen.
Die fließenden Gewässer haben meist einen kurzen Lauf und sind nicht schiffbar,
der größte Fluß ist der Medjerda, der dem Bugrades der Alten entspricht. Die
zum Betriebe der Landwirthschaft geeigneten Gegenden sind großentheils sehr
fruchtbar und reich an Vieh. Man erbaut Getreide, Oel, Südfrüchte und etwas


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0260" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/149832"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Streit um Tunis.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_905" prev="#ID_904"> sittlichen und intellektuellen Capitales willen, das in dem Liberalismus ange¬<lb/>
legt ist, in hohem Grade zu bedauern. Ertragen aber würde die deutsche Nation<lb/>
doch noch eher den Verlust dieses Capitals als seine Verwendung und gesteigerte<lb/><note type="byline"/> Wirksamkeit in einer verderblichen Richtung.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Der streit um Tunis.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_906"> le orientalische Frage ist unsterblich. Sie ist eine Hydra mit hundert<lb/>
Köpfen. Kaum scheint sie in Gestalt des griechisch-türkischen Grenz¬<lb/>
streites nach langen Anstrengungen der Mächte und vielem Wider¬<lb/>
streben der beiden Parteien gelöst und von der Tagesordnung ver¬<lb/>
schwunden, so taucht sie als tunesische Frage wieder am Horizonte<lb/>
aus und wird, anfangs nur ein schwarzer Punkt, täglich größer und zuletzt eine<lb/>
Wolke, die nach Gewittern aussieht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_907"> Tunis ist ein entferntes Land, und Fragen, die dort spiele», scheinen uns<lb/>
wenig anzugehen. Bei der Stellung indeß, welche das heutige Deutschland in<lb/>
der europäischen Staatengrnppe einnimmt, ist keine politische Frage für uns völlig<lb/>
gleichgiltig, also auch diese nicht, zumal da sie für zwei von unsern unmittel¬<lb/>
baren Nachbarn von großer Bedeutung ist, und so werden wir uns mit ihr<lb/>
einigermaßen eingehend beschäftigen müssen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_908" next="#ID_909"> Das Beylik Tunis ist ein Vasallenstaat des türkischen Reiches, der, ungefähr<lb/>
2500 Quadratmeilen groß, in Nordafrika liegt und im Westen von Algerien,<lb/>
im Norden und Osten vom Mittelmeer und im Süden von Tripolis und der<lb/>
Sahara begrenzt wird. Der etwa 125 Meilen lange Küstensaum ist im Osten<lb/>
flach und sandig, im Norte» meist bergig, indem der Atlas das Land in langen<lb/>
Ketten mit breiten Thälern durchzieht. Die See tritt in zahlreichen tiefen Buchte»<lb/>
unter schroff abfallenden Vorgebirgen in das Land hinei». Der Süden gehört<lb/>
zur Steppe von Bileduldjerid und wird zum Theil von Salzseen eingenommen.<lb/>
Die fließenden Gewässer haben meist einen kurzen Lauf und sind nicht schiffbar,<lb/>
der größte Fluß ist der Medjerda, der dem Bugrades der Alten entspricht. Die<lb/>
zum Betriebe der Landwirthschaft geeigneten Gegenden sind großentheils sehr<lb/>
fruchtbar und reich an Vieh. Man erbaut Getreide, Oel, Südfrüchte und etwas</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0260] Der Streit um Tunis. sittlichen und intellektuellen Capitales willen, das in dem Liberalismus ange¬ legt ist, in hohem Grade zu bedauern. Ertragen aber würde die deutsche Nation doch noch eher den Verlust dieses Capitals als seine Verwendung und gesteigerte Wirksamkeit in einer verderblichen Richtung. Der streit um Tunis. le orientalische Frage ist unsterblich. Sie ist eine Hydra mit hundert Köpfen. Kaum scheint sie in Gestalt des griechisch-türkischen Grenz¬ streites nach langen Anstrengungen der Mächte und vielem Wider¬ streben der beiden Parteien gelöst und von der Tagesordnung ver¬ schwunden, so taucht sie als tunesische Frage wieder am Horizonte aus und wird, anfangs nur ein schwarzer Punkt, täglich größer und zuletzt eine Wolke, die nach Gewittern aussieht. Tunis ist ein entferntes Land, und Fragen, die dort spiele», scheinen uns wenig anzugehen. Bei der Stellung indeß, welche das heutige Deutschland in der europäischen Staatengrnppe einnimmt, ist keine politische Frage für uns völlig gleichgiltig, also auch diese nicht, zumal da sie für zwei von unsern unmittel¬ baren Nachbarn von großer Bedeutung ist, und so werden wir uns mit ihr einigermaßen eingehend beschäftigen müssen. Das Beylik Tunis ist ein Vasallenstaat des türkischen Reiches, der, ungefähr 2500 Quadratmeilen groß, in Nordafrika liegt und im Westen von Algerien, im Norden und Osten vom Mittelmeer und im Süden von Tripolis und der Sahara begrenzt wird. Der etwa 125 Meilen lange Küstensaum ist im Osten flach und sandig, im Norte» meist bergig, indem der Atlas das Land in langen Ketten mit breiten Thälern durchzieht. Die See tritt in zahlreichen tiefen Buchte» unter schroff abfallenden Vorgebirgen in das Land hinei». Der Süden gehört zur Steppe von Bileduldjerid und wird zum Theil von Salzseen eingenommen. Die fließenden Gewässer haben meist einen kurzen Lauf und sind nicht schiffbar, der größte Fluß ist der Medjerda, der dem Bugrades der Alten entspricht. Die zum Betriebe der Landwirthschaft geeigneten Gegenden sind großentheils sehr fruchtbar und reich an Vieh. Man erbaut Getreide, Oel, Südfrüchte und etwas

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/260
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/260>, abgerufen am 29.06.2024.