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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

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Es ist, darauf wird immer wieder der Hauptnachdruck zu legen sein, alles echt,
ureigen, unmittelbar, kein Laut, kein Zug, der nachgeahmt, nachempfunden
wäre, die Frische und Stärke einer in sich geschlossenen, in ihrem Wollen und
Sehnen zu festem Einklang gediehenen Individualität.

Uuter vielem kritischen Blödsinn, der heute zu Markt gebracht wird, findet
sich gelegentlich die Behauptung, die Zeit der Individualitäten in der Literatur
sei vorüber. Der Himmel weiß, auf wie viele Individuen der jüngsten glor¬
reichen Aera es zutrifft, daß sie nichts, absolut nichts zu geben haben als die
hergebrachten Scenen, Empfindungen und Schablvnencharaktere, wenn es hoch¬
tönend, mit einigen Zeitphrasen und einigen geistreichen Einfällen auflnckirt.
Allein selbst von den Lobrednern der Allgemeingesinnung, Allgemeinempfindung
wird zugestände", daß noch immer Ausnahmen existiren. Gottfried Keller ge¬
hört zu den beträchtlichsten und urwüchsigsten Ausnahmen. Wer mit uns die
Ueberzeugung hegt, daß die deutsche poetische Literatur mit der Existenz indivi-
dueller scharfgeprägter Talente, echter, ganzer Naturen steht und fällt, der
wird mit uns einstimmen in die Frende, daß eine eigenthümliche und innerlich
reiche Dichtererscheinnng wie Keller ihren Weg dnrch das verworrene Gestrüpp
moderner Literaturwildniß gefunden hat und, wie es scheint, des Willens und
der Kraft ist, diesen Weg noch ein gutes Stück fortzusetzen. Die volle Bedeutung
und endgiltige Stellung Gottfried Kellers in unserer Literatur wird hoffentlich
erst nach manchem Lustrum ermessen werdeu - - inzwischen unterliegt es schon
jetzt keinen: Zweifel, daß er dem Epigonenthum nicht zugezählt werden wird.




Die Derjudung des deutschen Theaters.
(Schluß.)

Vielleicht hält der allzu unbefangene, uneingeweihte Leser die in unserem
ersten Artikel gegebenen Ausführungen für übertrieben. Er hat ja im Laufe
der letzten zwanzig Jahre von der Bühne kaum mehr verlangen gelernt, als sie
ihm jetzt bietet. Er weiß nur, daß das Theater ein Vergnügungsinstitut ist,
wo er die neueste Parodie oder Posse oder Operette mit den neuesten Börsen¬
witzen, dem neuesten Offenbachschen Cancan, den neuesten Balletmädchen und
der neuesten Mode zu sehen und zu hören bekommt. Und insofern erscheinen ihm
die Münchener Mustervorstellungen - - obwohl auch sie nichts weiter waren als
eine gute Kassenspeculatiou des Herrn Possart -- dennoch musterhaft, da wenig-


Es ist, darauf wird immer wieder der Hauptnachdruck zu legen sein, alles echt,
ureigen, unmittelbar, kein Laut, kein Zug, der nachgeahmt, nachempfunden
wäre, die Frische und Stärke einer in sich geschlossenen, in ihrem Wollen und
Sehnen zu festem Einklang gediehenen Individualität.

Uuter vielem kritischen Blödsinn, der heute zu Markt gebracht wird, findet
sich gelegentlich die Behauptung, die Zeit der Individualitäten in der Literatur
sei vorüber. Der Himmel weiß, auf wie viele Individuen der jüngsten glor¬
reichen Aera es zutrifft, daß sie nichts, absolut nichts zu geben haben als die
hergebrachten Scenen, Empfindungen und Schablvnencharaktere, wenn es hoch¬
tönend, mit einigen Zeitphrasen und einigen geistreichen Einfällen auflnckirt.
Allein selbst von den Lobrednern der Allgemeingesinnung, Allgemeinempfindung
wird zugestände», daß noch immer Ausnahmen existiren. Gottfried Keller ge¬
hört zu den beträchtlichsten und urwüchsigsten Ausnahmen. Wer mit uns die
Ueberzeugung hegt, daß die deutsche poetische Literatur mit der Existenz indivi-
dueller scharfgeprägter Talente, echter, ganzer Naturen steht und fällt, der
wird mit uns einstimmen in die Frende, daß eine eigenthümliche und innerlich
reiche Dichtererscheinnng wie Keller ihren Weg dnrch das verworrene Gestrüpp
moderner Literaturwildniß gefunden hat und, wie es scheint, des Willens und
der Kraft ist, diesen Weg noch ein gutes Stück fortzusetzen. Die volle Bedeutung
und endgiltige Stellung Gottfried Kellers in unserer Literatur wird hoffentlich
erst nach manchem Lustrum ermessen werdeu - - inzwischen unterliegt es schon
jetzt keinen: Zweifel, daß er dem Epigonenthum nicht zugezählt werden wird.




Die Derjudung des deutschen Theaters.
(Schluß.)

Vielleicht hält der allzu unbefangene, uneingeweihte Leser die in unserem
ersten Artikel gegebenen Ausführungen für übertrieben. Er hat ja im Laufe
der letzten zwanzig Jahre von der Bühne kaum mehr verlangen gelernt, als sie
ihm jetzt bietet. Er weiß nur, daß das Theater ein Vergnügungsinstitut ist,
wo er die neueste Parodie oder Posse oder Operette mit den neuesten Börsen¬
witzen, dem neuesten Offenbachschen Cancan, den neuesten Balletmädchen und
der neuesten Mode zu sehen und zu hören bekommt. Und insofern erscheinen ihm
die Münchener Mustervorstellungen - - obwohl auch sie nichts weiter waren als
eine gute Kassenspeculatiou des Herrn Possart — dennoch musterhaft, da wenig-


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[0075] Es ist, darauf wird immer wieder der Hauptnachdruck zu legen sein, alles echt, ureigen, unmittelbar, kein Laut, kein Zug, der nachgeahmt, nachempfunden wäre, die Frische und Stärke einer in sich geschlossenen, in ihrem Wollen und Sehnen zu festem Einklang gediehenen Individualität. Uuter vielem kritischen Blödsinn, der heute zu Markt gebracht wird, findet sich gelegentlich die Behauptung, die Zeit der Individualitäten in der Literatur sei vorüber. Der Himmel weiß, auf wie viele Individuen der jüngsten glor¬ reichen Aera es zutrifft, daß sie nichts, absolut nichts zu geben haben als die hergebrachten Scenen, Empfindungen und Schablvnencharaktere, wenn es hoch¬ tönend, mit einigen Zeitphrasen und einigen geistreichen Einfällen auflnckirt. Allein selbst von den Lobrednern der Allgemeingesinnung, Allgemeinempfindung wird zugestände», daß noch immer Ausnahmen existiren. Gottfried Keller ge¬ hört zu den beträchtlichsten und urwüchsigsten Ausnahmen. Wer mit uns die Ueberzeugung hegt, daß die deutsche poetische Literatur mit der Existenz indivi- dueller scharfgeprägter Talente, echter, ganzer Naturen steht und fällt, der wird mit uns einstimmen in die Frende, daß eine eigenthümliche und innerlich reiche Dichtererscheinnng wie Keller ihren Weg dnrch das verworrene Gestrüpp moderner Literaturwildniß gefunden hat und, wie es scheint, des Willens und der Kraft ist, diesen Weg noch ein gutes Stück fortzusetzen. Die volle Bedeutung und endgiltige Stellung Gottfried Kellers in unserer Literatur wird hoffentlich erst nach manchem Lustrum ermessen werdeu - - inzwischen unterliegt es schon jetzt keinen: Zweifel, daß er dem Epigonenthum nicht zugezählt werden wird. Die Derjudung des deutschen Theaters. (Schluß.) Vielleicht hält der allzu unbefangene, uneingeweihte Leser die in unserem ersten Artikel gegebenen Ausführungen für übertrieben. Er hat ja im Laufe der letzten zwanzig Jahre von der Bühne kaum mehr verlangen gelernt, als sie ihm jetzt bietet. Er weiß nur, daß das Theater ein Vergnügungsinstitut ist, wo er die neueste Parodie oder Posse oder Operette mit den neuesten Börsen¬ witzen, dem neuesten Offenbachschen Cancan, den neuesten Balletmädchen und der neuesten Mode zu sehen und zu hören bekommt. Und insofern erscheinen ihm die Münchener Mustervorstellungen - - obwohl auch sie nichts weiter waren als eine gute Kassenspeculatiou des Herrn Possart — dennoch musterhaft, da wenig-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/75>, abgerufen am 27.12.2024.