Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.Novellen "Die Leute von Seldwyla" hauptsächlich dadurch, daß der Dichter Eine Charakteristik des Lyrikers Keller mag einem späteren Aufsatz vor¬ Novellen „Die Leute von Seldwyla" hauptsächlich dadurch, daß der Dichter Eine Charakteristik des Lyrikers Keller mag einem späteren Aufsatz vor¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0074" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/147721"/> <p xml:id="ID_212" prev="#ID_211"> Novellen „Die Leute von Seldwyla" hauptsächlich dadurch, daß der Dichter<lb/> in ihnen noch seltner und vereinzelter eine dramatischen Zuspitzung erstrebt und<lb/> noch strenger den rein epischen Ton festhält. Im übrigen erscheinen die Ge¬<lb/> staltungskraft, der Erfiudnngsreichthmu des Dichters völlig ungeniindert, ja im<lb/> Detail noch gesteigert. Ju einigen Novellen wirkt er mit unendlich feinen<lb/> Einzelheiten — etwa wie ein Maler, der seine Kraft im satten, leuchtenden Colorit<lb/> mannigfach versucht, gelegentlich das Verlangen fühlt, eiuen Vorgang oder eine<lb/> Stimmung mit fein abgetöntem Farben doch zur vollen Wirkung zu bringen.<lb/> Unmittelbar daneben treffen wir dann wieder jene kraftvollen Züge, die uns<lb/> aus der ersten Nvvellensammlung vertraut sind, der Humor steigert sich hier wie<lb/> dort zum hellen aufjauchzenden Uebermuth. Ein Caprieeio wie das römische<lb/> Kttustlerabeuteuer des Nahmenhelden der „Züricher Novellen" und die Freuden,<lb/> die dieser Mäcenas aus seiner Hochzeitsreise an dein protegierten Bildhauertalent<lb/> erlebt, müßte die finsterste Stirn entrnnzeln und echtes, fröhliches Lachen erwecken.<lb/> Es ist schwer zu sagen, welcher von der „Züricher Novellen" mau den Vorzug<lb/> geben soll — eine unbestritten alle überragende wie „Romeo und Julia" in deu<lb/> „Leuten von Seldwyla" ist nicht vorhanden. Wenn wir den „Landvogt von<lb/> Greifensee" und das „Fähnlein der sieben Aufrechten" vor anderen nennen, so<lb/> soll dies mehr die Breite und Weite des dargestellten Stückes äußerer und<lb/> innerer Welt auch in diesem Buche, die echt poetische Mannigfaltigkeit bezeichnen,<lb/> als dem subjektiven und nothwendig verschiedenen Eindruck und Urtheil anderer<lb/> vorgreifen.</p><lb/> <p xml:id="ID_213" next="#ID_214"> Eine Charakteristik des Lyrikers Keller mag einem späteren Aufsatz vor¬<lb/> behalten bleiben. Es bedarf kaum eines Wortes, um hervorzuheben, daß ein<lb/> Dichter von dieser Eigenart, von dieser starken und warmen Empfindung, von<lb/> dieser Fähigkeit, die Eindrücke der Welt mit allen Organen in sich aufzunehmen,<lb/> auch in der Lyrik seinen eigenen Weg geht und seine eigene Sprache redet.<lb/> Die Kritik, welche neuere lyrische Gedichte nur mit Goethe, Heine oder Geibel<lb/> zu vergleichen weiß, würde den Gedichten Kellers gegenüber in Verlegenheit<lb/> kommen. Sie stehen für sich, sie schlagen wesentlich andere und doch vollkommen<lb/> unverkünstelte, aus den Tiefen einer echten Dichterbrust kommende Töne an, sie<lb/> haben einen Hauch der stärkenden Rauhheit und würzigen Reinheit der Alpenluft in<lb/> sich. Leicht möglich, daß derjenige, welcher nur diese Gedichte liest, vou Keller<lb/> den Eindruck eines spröden, gelegentlich eines herben Dichters empfängt, obschon<lb/> Gedichte wie die „Sommernacht", wie die „Vision" und die „Wiuzerin" Blüthen<lb/> von erquickendster Schönheit find. Aber um solche wie „Nosalinde", „Am Sarge<lb/> eines neunzigjährigen Landmanns vom Zürichsee" — wir nennen nur einige<lb/> aus vielen — ganz in sich aufzunehmen und zu würdigen, muß man an der<lb/> Totalerscheinung und dem Gesammtstreben des Dichters Antheil gewonnen haben</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0074]
Novellen „Die Leute von Seldwyla" hauptsächlich dadurch, daß der Dichter
in ihnen noch seltner und vereinzelter eine dramatischen Zuspitzung erstrebt und
noch strenger den rein epischen Ton festhält. Im übrigen erscheinen die Ge¬
staltungskraft, der Erfiudnngsreichthmu des Dichters völlig ungeniindert, ja im
Detail noch gesteigert. Ju einigen Novellen wirkt er mit unendlich feinen
Einzelheiten — etwa wie ein Maler, der seine Kraft im satten, leuchtenden Colorit
mannigfach versucht, gelegentlich das Verlangen fühlt, eiuen Vorgang oder eine
Stimmung mit fein abgetöntem Farben doch zur vollen Wirkung zu bringen.
Unmittelbar daneben treffen wir dann wieder jene kraftvollen Züge, die uns
aus der ersten Nvvellensammlung vertraut sind, der Humor steigert sich hier wie
dort zum hellen aufjauchzenden Uebermuth. Ein Caprieeio wie das römische
Kttustlerabeuteuer des Nahmenhelden der „Züricher Novellen" und die Freuden,
die dieser Mäcenas aus seiner Hochzeitsreise an dein protegierten Bildhauertalent
erlebt, müßte die finsterste Stirn entrnnzeln und echtes, fröhliches Lachen erwecken.
Es ist schwer zu sagen, welcher von der „Züricher Novellen" mau den Vorzug
geben soll — eine unbestritten alle überragende wie „Romeo und Julia" in deu
„Leuten von Seldwyla" ist nicht vorhanden. Wenn wir den „Landvogt von
Greifensee" und das „Fähnlein der sieben Aufrechten" vor anderen nennen, so
soll dies mehr die Breite und Weite des dargestellten Stückes äußerer und
innerer Welt auch in diesem Buche, die echt poetische Mannigfaltigkeit bezeichnen,
als dem subjektiven und nothwendig verschiedenen Eindruck und Urtheil anderer
vorgreifen.
Eine Charakteristik des Lyrikers Keller mag einem späteren Aufsatz vor¬
behalten bleiben. Es bedarf kaum eines Wortes, um hervorzuheben, daß ein
Dichter von dieser Eigenart, von dieser starken und warmen Empfindung, von
dieser Fähigkeit, die Eindrücke der Welt mit allen Organen in sich aufzunehmen,
auch in der Lyrik seinen eigenen Weg geht und seine eigene Sprache redet.
Die Kritik, welche neuere lyrische Gedichte nur mit Goethe, Heine oder Geibel
zu vergleichen weiß, würde den Gedichten Kellers gegenüber in Verlegenheit
kommen. Sie stehen für sich, sie schlagen wesentlich andere und doch vollkommen
unverkünstelte, aus den Tiefen einer echten Dichterbrust kommende Töne an, sie
haben einen Hauch der stärkenden Rauhheit und würzigen Reinheit der Alpenluft in
sich. Leicht möglich, daß derjenige, welcher nur diese Gedichte liest, vou Keller
den Eindruck eines spröden, gelegentlich eines herben Dichters empfängt, obschon
Gedichte wie die „Sommernacht", wie die „Vision" und die „Wiuzerin" Blüthen
von erquickendster Schönheit find. Aber um solche wie „Nosalinde", „Am Sarge
eines neunzigjährigen Landmanns vom Zürichsee" — wir nennen nur einige
aus vielen — ganz in sich aufzunehmen und zu würdigen, muß man an der
Totalerscheinung und dem Gesammtstreben des Dichters Antheil gewonnen haben
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |