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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

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mende provinzielle Wendungen in die Schriftsprache einzuführen und für moderne
Dinge die Sprache des Tages in Anspruch zu nehmen. In fester, kühner Weise
bildet er sich für seine Eigenthümlichkeit die Sprache, und doch erscheint dieselbe
weder gegensätzlich zur Sprache uuserer classischen Poesie, noch entbehrt sie jener
Gedrungenheit und reizvolle" Mannigfaltigkeit, die den poetischen Stilisten vom
lvddrigen Belletristen selbst da noch unterscheidet, wo der Leser stützt und zwei¬
felt. In dem Roman "Der grüne Heinrich" ist Kellers Stil minder gereift
und vollendet als in den "Leuten von Seldwyla", es fehlt dort nicht an ein¬
zelnen Disparitäten des lebendig leidenschaftlichen Tones, des realistischen Aus¬
druckes und der doch erstrebten Plastik und Abrundung. Im Novelleuehklus
hingegen ist ein seltenes Gleichmaß erreicht, nnr einzelne Stellen gemahnen
daran, daß gerade der wahrhafte Poet um den Ausdruck ringt. Die ganze
Darstellungsweise Kellers, frei, naturwüchsig und unmittelbar wie sie ist, löst
nicht den Zusammenhang mit der inneren Durchbildung und der Anmuth des
sprachlichen Vortrags, die in besseren Tagen unserer Literatur Gesetz war.
Die Originalität und Lebensfrische des Ausdrucks ist bis zu einer gelegentlichen
burschikosen Wendung die Originalität und Frische des Lebensgehaltes, der
poetischen Natur Kellers, sie hat nicht nöthig mit aller Kunst und dem eigensten
Wesen unserer Sprache zu brechen und an die Stelle des edlen Deutsch einen
schauerlichen Feuilletonistenjargon zu setzen, der dann freilich auch originell heißt.
Wenn einzelne Kritiker geltend gemacht haben, daß Keller mit der Aufnahme
heimischer localer Worte und Wortwendungen zu rücksichtslos verfahre, so ist
damit an die Frage gerührt, wie weit sich die gesunde Aneignungsfähigkeit unserer
Schriftsprache erstrecke. Wir glauben, daß dieselbe sehr weit, jedenfalls so weit
reicht, daß der einem echten Leben entquollene, sinnvolle und schlagend bildliche
Ausdruck, wie er sich in den "Leuten von Seldwyla" findet, vollauf in ihr
Raum hat.




Dr. Hasse und die Gymnasien.
Lin Beitrag zur Ucberbürd ungsfrage.

Seit Lorinser im Jahre 1836 in seinem Aufsatze "Zum Schutz der Ge¬
sundheit in den Schulen" (Med. Zeitung 1836. Neuer Abdruck 1861) auf die
Mängel der Schule in physischer Beziehung hingewiesen, hat die neue Wissen¬
schaft der Schul-Hygiene viele um das Wohl der heranwachsenden Jugend ernst-


mende provinzielle Wendungen in die Schriftsprache einzuführen und für moderne
Dinge die Sprache des Tages in Anspruch zu nehmen. In fester, kühner Weise
bildet er sich für seine Eigenthümlichkeit die Sprache, und doch erscheint dieselbe
weder gegensätzlich zur Sprache uuserer classischen Poesie, noch entbehrt sie jener
Gedrungenheit und reizvolle» Mannigfaltigkeit, die den poetischen Stilisten vom
lvddrigen Belletristen selbst da noch unterscheidet, wo der Leser stützt und zwei¬
felt. In dem Roman „Der grüne Heinrich" ist Kellers Stil minder gereift
und vollendet als in den „Leuten von Seldwyla", es fehlt dort nicht an ein¬
zelnen Disparitäten des lebendig leidenschaftlichen Tones, des realistischen Aus¬
druckes und der doch erstrebten Plastik und Abrundung. Im Novelleuehklus
hingegen ist ein seltenes Gleichmaß erreicht, nnr einzelne Stellen gemahnen
daran, daß gerade der wahrhafte Poet um den Ausdruck ringt. Die ganze
Darstellungsweise Kellers, frei, naturwüchsig und unmittelbar wie sie ist, löst
nicht den Zusammenhang mit der inneren Durchbildung und der Anmuth des
sprachlichen Vortrags, die in besseren Tagen unserer Literatur Gesetz war.
Die Originalität und Lebensfrische des Ausdrucks ist bis zu einer gelegentlichen
burschikosen Wendung die Originalität und Frische des Lebensgehaltes, der
poetischen Natur Kellers, sie hat nicht nöthig mit aller Kunst und dem eigensten
Wesen unserer Sprache zu brechen und an die Stelle des edlen Deutsch einen
schauerlichen Feuilletonistenjargon zu setzen, der dann freilich auch originell heißt.
Wenn einzelne Kritiker geltend gemacht haben, daß Keller mit der Aufnahme
heimischer localer Worte und Wortwendungen zu rücksichtslos verfahre, so ist
damit an die Frage gerührt, wie weit sich die gesunde Aneignungsfähigkeit unserer
Schriftsprache erstrecke. Wir glauben, daß dieselbe sehr weit, jedenfalls so weit
reicht, daß der einem echten Leben entquollene, sinnvolle und schlagend bildliche
Ausdruck, wie er sich in den „Leuten von Seldwyla" findet, vollauf in ihr
Raum hat.




Dr. Hasse und die Gymnasien.
Lin Beitrag zur Ucberbürd ungsfrage.

Seit Lorinser im Jahre 1836 in seinem Aufsatze „Zum Schutz der Ge¬
sundheit in den Schulen" (Med. Zeitung 1836. Neuer Abdruck 1861) auf die
Mängel der Schule in physischer Beziehung hingewiesen, hat die neue Wissen¬
schaft der Schul-Hygiene viele um das Wohl der heranwachsenden Jugend ernst-


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[0018] mende provinzielle Wendungen in die Schriftsprache einzuführen und für moderne Dinge die Sprache des Tages in Anspruch zu nehmen. In fester, kühner Weise bildet er sich für seine Eigenthümlichkeit die Sprache, und doch erscheint dieselbe weder gegensätzlich zur Sprache uuserer classischen Poesie, noch entbehrt sie jener Gedrungenheit und reizvolle» Mannigfaltigkeit, die den poetischen Stilisten vom lvddrigen Belletristen selbst da noch unterscheidet, wo der Leser stützt und zwei¬ felt. In dem Roman „Der grüne Heinrich" ist Kellers Stil minder gereift und vollendet als in den „Leuten von Seldwyla", es fehlt dort nicht an ein¬ zelnen Disparitäten des lebendig leidenschaftlichen Tones, des realistischen Aus¬ druckes und der doch erstrebten Plastik und Abrundung. Im Novelleuehklus hingegen ist ein seltenes Gleichmaß erreicht, nnr einzelne Stellen gemahnen daran, daß gerade der wahrhafte Poet um den Ausdruck ringt. Die ganze Darstellungsweise Kellers, frei, naturwüchsig und unmittelbar wie sie ist, löst nicht den Zusammenhang mit der inneren Durchbildung und der Anmuth des sprachlichen Vortrags, die in besseren Tagen unserer Literatur Gesetz war. Die Originalität und Lebensfrische des Ausdrucks ist bis zu einer gelegentlichen burschikosen Wendung die Originalität und Frische des Lebensgehaltes, der poetischen Natur Kellers, sie hat nicht nöthig mit aller Kunst und dem eigensten Wesen unserer Sprache zu brechen und an die Stelle des edlen Deutsch einen schauerlichen Feuilletonistenjargon zu setzen, der dann freilich auch originell heißt. Wenn einzelne Kritiker geltend gemacht haben, daß Keller mit der Aufnahme heimischer localer Worte und Wortwendungen zu rücksichtslos verfahre, so ist damit an die Frage gerührt, wie weit sich die gesunde Aneignungsfähigkeit unserer Schriftsprache erstrecke. Wir glauben, daß dieselbe sehr weit, jedenfalls so weit reicht, daß der einem echten Leben entquollene, sinnvolle und schlagend bildliche Ausdruck, wie er sich in den „Leuten von Seldwyla" findet, vollauf in ihr Raum hat. Dr. Hasse und die Gymnasien. Lin Beitrag zur Ucberbürd ungsfrage. Seit Lorinser im Jahre 1836 in seinem Aufsatze „Zum Schutz der Ge¬ sundheit in den Schulen" (Med. Zeitung 1836. Neuer Abdruck 1861) auf die Mängel der Schule in physischer Beziehung hingewiesen, hat die neue Wissen¬ schaft der Schul-Hygiene viele um das Wohl der heranwachsenden Jugend ernst-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/18>, abgerufen am 27.12.2024.