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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Beiträge zur Beurtheilung der Judenfrage.
5. Die Emancipation.

Von weit größerer Bedeutung als die in unserm vorigen Artikel charak-
terisirten legislatorischen Bestimmungen über das in Deutschland angesiedelte
semitische Element war es, daß 1847 in Preußen dem Vereinigten Landtage
ein Gesetzentwurf über die bürgerlichen Verhältnisse der Juden vorgelegt wurde.
Diese Verhältnisse waren bisher in den verschiedenen Provinzen der Monarchie
verschieden geordnet gewesen. Das Edict von 1812 hatte alle im preußischen
Staate mit Generalprivilegien, Naturalisations-Patenten, Schutzbriesen und Con-
cessionen versehenen Juden für preußische Staatsbürger erklärt und ihnen in
den meisten wesentlichen Beziehungen gleiche Rechte mit den Christen verliehen.
Sie konnten ungehindert Grundbesitz erwerben, Handel und Handwerke betreiben,
akademische und Schullehrerstellen bekleiden und zu Gemeindeämtern gewählt
werden. Nur Staatsbeamte durften sie nicht werden, und von allen ständischen
Rechten blieben sie ausgeschlossen.

Indeß hatte die spätere Gesetzgebung diesen Stand der Dinge vielfach ab¬
geändert. Seit 1822 war die Zulässigkeit der Bekleidung von Professuren und
Schullehrerstellen durch Juden aufgehoben. 1830 hatte ein Gesetz erklärt, das
Edict von 1812 habe nnr für die alten, nicht für die neuerworbenen Provinzen
Geltung, wodurch die preußische Monarchie -- abgesehen von den eigenthüm¬
lichen Verhältnissen in Posen, welche 1833 eine besondere Behandlung der dort
wohnenden Jsraeliten herbeiführten -- mehr als ein Dutzend verschiedene Juden¬
gesetzgebungen erhielt, die alle Stufen von voller Freiheit bis zu fast mittelalter¬
licher Beschränkung vertraten.

In Danzig, wo die Judenschaft nach französischem Recht alle politischen
und bürgerlichen Befugnisse besessen hatte, galt fortan das erwähnte Edict; für
die rheinländischen Juden, die gleichfalls völlig emancipirt gewesen, erneuerte
man nicht nur das im vorigen Artikel angeführte Decret Napoleons, sondern es
bildet sich auch die Praxis aus, die Jsraeliten von der Bekleidung von Staatsämtern,
Professuren und Schulstellen und von der Wahl zu Geschwornen und Gemeinde¬
vorstehern auszuschließen, und mit denen, die im ehemaligen Großherzogthum
Berg, sowie im einstigen Königreiche Westfalen wohnten, fand dasselbe 'statt.
Noch ungünstiger endlich waren die Juden von jetzt an in den einst sächsischen
Landestheilen, in Neuvorpommern und auf Rügen, sowie in den früher nassaui¬
schen Kreisen gestellt, wo nun die alten strengen Beschränkungen wieder zur
Geltung gelangten.

Die Regierung war dabei immer nur der Stimme des Volkes gefolgt.
Einige der neuen Landestheile hatten energisch gegen das Einströmen des semi¬
tischen Elements in ihre Städte und Dörfer protestirt, das auf Grund jenes
liberalen Edictes begonnen hatte oder von Posen her zu befürchten stand."')
"Die Erklärungen der Provinzialstände in den Jahren 1824 bis 1828 fielen
mehr oder weniger dahin aus, daß zum Besten der christlichen Bevölkerung



^) Wir folgen hier wörtlich und später auszugsweise der Brockhcmsschen "Gegenwart",
Bd. 1 S, 360 fg.
Beiträge zur Beurtheilung der Judenfrage.
5. Die Emancipation.

Von weit größerer Bedeutung als die in unserm vorigen Artikel charak-
terisirten legislatorischen Bestimmungen über das in Deutschland angesiedelte
semitische Element war es, daß 1847 in Preußen dem Vereinigten Landtage
ein Gesetzentwurf über die bürgerlichen Verhältnisse der Juden vorgelegt wurde.
Diese Verhältnisse waren bisher in den verschiedenen Provinzen der Monarchie
verschieden geordnet gewesen. Das Edict von 1812 hatte alle im preußischen
Staate mit Generalprivilegien, Naturalisations-Patenten, Schutzbriesen und Con-
cessionen versehenen Juden für preußische Staatsbürger erklärt und ihnen in
den meisten wesentlichen Beziehungen gleiche Rechte mit den Christen verliehen.
Sie konnten ungehindert Grundbesitz erwerben, Handel und Handwerke betreiben,
akademische und Schullehrerstellen bekleiden und zu Gemeindeämtern gewählt
werden. Nur Staatsbeamte durften sie nicht werden, und von allen ständischen
Rechten blieben sie ausgeschlossen.

Indeß hatte die spätere Gesetzgebung diesen Stand der Dinge vielfach ab¬
geändert. Seit 1822 war die Zulässigkeit der Bekleidung von Professuren und
Schullehrerstellen durch Juden aufgehoben. 1830 hatte ein Gesetz erklärt, das
Edict von 1812 habe nnr für die alten, nicht für die neuerworbenen Provinzen
Geltung, wodurch die preußische Monarchie — abgesehen von den eigenthüm¬
lichen Verhältnissen in Posen, welche 1833 eine besondere Behandlung der dort
wohnenden Jsraeliten herbeiführten — mehr als ein Dutzend verschiedene Juden¬
gesetzgebungen erhielt, die alle Stufen von voller Freiheit bis zu fast mittelalter¬
licher Beschränkung vertraten.

In Danzig, wo die Judenschaft nach französischem Recht alle politischen
und bürgerlichen Befugnisse besessen hatte, galt fortan das erwähnte Edict; für
die rheinländischen Juden, die gleichfalls völlig emancipirt gewesen, erneuerte
man nicht nur das im vorigen Artikel angeführte Decret Napoleons, sondern es
bildet sich auch die Praxis aus, die Jsraeliten von der Bekleidung von Staatsämtern,
Professuren und Schulstellen und von der Wahl zu Geschwornen und Gemeinde¬
vorstehern auszuschließen, und mit denen, die im ehemaligen Großherzogthum
Berg, sowie im einstigen Königreiche Westfalen wohnten, fand dasselbe 'statt.
Noch ungünstiger endlich waren die Juden von jetzt an in den einst sächsischen
Landestheilen, in Neuvorpommern und auf Rügen, sowie in den früher nassaui¬
schen Kreisen gestellt, wo nun die alten strengen Beschränkungen wieder zur
Geltung gelangten.

Die Regierung war dabei immer nur der Stimme des Volkes gefolgt.
Einige der neuen Landestheile hatten energisch gegen das Einströmen des semi¬
tischen Elements in ihre Städte und Dörfer protestirt, das auf Grund jenes
liberalen Edictes begonnen hatte oder von Posen her zu befürchten stand."')
»Die Erklärungen der Provinzialstände in den Jahren 1824 bis 1828 fielen
mehr oder weniger dahin aus, daß zum Besten der christlichen Bevölkerung



^) Wir folgen hier wörtlich und später auszugsweise der Brockhcmsschen „Gegenwart",
Bd. 1 S, 360 fg.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/39>, abgerufen am 03.07.2024.