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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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späteren Zeiten; in der protestantischen Kirche beider Konfessionen wie innerhalb
des Katholizismus hat sie im Kampfe mit denselben sich erneuernden Ver-
irrungen in neuer Weise das alte Zeugniß abgelegt; bald im Sinne einer
Ergänzung im Frieden mit den bestehenden Institutionen und Traditionen,
bald im berechtigten Widerstande gegen diese, bald auf den Abwegen der
Schwärmerei.


H. Jacoby.


Ms der guten alten Jen in England.

Vor uns liegt in deutscher Uebersetzung der erste Band eines neuen
Buches von Lecky*), dem englischen Gelehrten, dem wir in seiner "Europäi¬
schen Sittengeschichte" ein kulturhistorisches Werk ersten Ranges verdanken.
Auch sein neues Unternehmen, die Geschichte seines Vaterlandes im vorigen
Jahrhundert, verdient hohe Anerkennung, und man kann es, wenn man von
dem ungerechten Urtheile absieht, welches der Verfasser über Friedrich den
Großen fällt, ohne Ueberschätzung den klassischen Arbeitern Rankes und Ma-
caulays an die Seite stellen. Friedrich der Große hat nach Lecky gegen Maria
Theresia unritterlich gehandelt. Aber in der Politik verfährt man ritterlich
nur, wenn es zugleich zweckmäßig ist, und das war hier nicht der Fall. Der
König hat ferner ohne viel Bedenken Verbündete gewechselt und Verträge ge¬
brochen, meint unser Geschichtschreiber, indem er sich auf den Standpunkt des
Moralisten stellt. Aber die Geschichte und die, welche sie machen, die provi-
denziellen Menschen, die Heroen, kennen diesen Standpunkt nicht. Die Geschichte
ist eine Kette von Rechtsbrüchen im Namen eines neben dem alten Rechte all¬
mählich aus dringenden Interessen der Völker entsprossenen neuen und höheren.
Bündnisse und Verträge werden hinfällig trotz des Eingangs, der die meisten
auf ewig geschlossen sein läßt; und wenn die Interessen sich verschieben, wech¬
seln die Alliancen. Das wird so bleiben, bis einmal eine Entwickelungsphase
eintritt, wo sich die gegenseitigen Interessen ausgeglichen haben und unter
Kulturstaaten kein Krieg mehr zu führen sein wird. In Friedrichs Falle war



*) Geschichte Englands im achtzehnten Jahrhundert von William Edward
Hartpole Lecky. Uebersetzt von Ferdinand Liiwe, Erster Band. Leipzig und Heidel¬
berg, C. F. Wintersche Verlagshandlung, 1379.

späteren Zeiten; in der protestantischen Kirche beider Konfessionen wie innerhalb
des Katholizismus hat sie im Kampfe mit denselben sich erneuernden Ver-
irrungen in neuer Weise das alte Zeugniß abgelegt; bald im Sinne einer
Ergänzung im Frieden mit den bestehenden Institutionen und Traditionen,
bald im berechtigten Widerstande gegen diese, bald auf den Abwegen der
Schwärmerei.


H. Jacoby.


Ms der guten alten Jen in England.

Vor uns liegt in deutscher Uebersetzung der erste Band eines neuen
Buches von Lecky*), dem englischen Gelehrten, dem wir in seiner „Europäi¬
schen Sittengeschichte" ein kulturhistorisches Werk ersten Ranges verdanken.
Auch sein neues Unternehmen, die Geschichte seines Vaterlandes im vorigen
Jahrhundert, verdient hohe Anerkennung, und man kann es, wenn man von
dem ungerechten Urtheile absieht, welches der Verfasser über Friedrich den
Großen fällt, ohne Ueberschätzung den klassischen Arbeitern Rankes und Ma-
caulays an die Seite stellen. Friedrich der Große hat nach Lecky gegen Maria
Theresia unritterlich gehandelt. Aber in der Politik verfährt man ritterlich
nur, wenn es zugleich zweckmäßig ist, und das war hier nicht der Fall. Der
König hat ferner ohne viel Bedenken Verbündete gewechselt und Verträge ge¬
brochen, meint unser Geschichtschreiber, indem er sich auf den Standpunkt des
Moralisten stellt. Aber die Geschichte und die, welche sie machen, die provi-
denziellen Menschen, die Heroen, kennen diesen Standpunkt nicht. Die Geschichte
ist eine Kette von Rechtsbrüchen im Namen eines neben dem alten Rechte all¬
mählich aus dringenden Interessen der Völker entsprossenen neuen und höheren.
Bündnisse und Verträge werden hinfällig trotz des Eingangs, der die meisten
auf ewig geschlossen sein läßt; und wenn die Interessen sich verschieben, wech¬
seln die Alliancen. Das wird so bleiben, bis einmal eine Entwickelungsphase
eintritt, wo sich die gegenseitigen Interessen ausgeglichen haben und unter
Kulturstaaten kein Krieg mehr zu führen sein wird. In Friedrichs Falle war



*) Geschichte Englands im achtzehnten Jahrhundert von William Edward
Hartpole Lecky. Uebersetzt von Ferdinand Liiwe, Erster Band. Leipzig und Heidel¬
berg, C. F. Wintersche Verlagshandlung, 1379.
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[0148] späteren Zeiten; in der protestantischen Kirche beider Konfessionen wie innerhalb des Katholizismus hat sie im Kampfe mit denselben sich erneuernden Ver- irrungen in neuer Weise das alte Zeugniß abgelegt; bald im Sinne einer Ergänzung im Frieden mit den bestehenden Institutionen und Traditionen, bald im berechtigten Widerstande gegen diese, bald auf den Abwegen der Schwärmerei. H. Jacoby. Ms der guten alten Jen in England. Vor uns liegt in deutscher Uebersetzung der erste Band eines neuen Buches von Lecky*), dem englischen Gelehrten, dem wir in seiner „Europäi¬ schen Sittengeschichte" ein kulturhistorisches Werk ersten Ranges verdanken. Auch sein neues Unternehmen, die Geschichte seines Vaterlandes im vorigen Jahrhundert, verdient hohe Anerkennung, und man kann es, wenn man von dem ungerechten Urtheile absieht, welches der Verfasser über Friedrich den Großen fällt, ohne Ueberschätzung den klassischen Arbeitern Rankes und Ma- caulays an die Seite stellen. Friedrich der Große hat nach Lecky gegen Maria Theresia unritterlich gehandelt. Aber in der Politik verfährt man ritterlich nur, wenn es zugleich zweckmäßig ist, und das war hier nicht der Fall. Der König hat ferner ohne viel Bedenken Verbündete gewechselt und Verträge ge¬ brochen, meint unser Geschichtschreiber, indem er sich auf den Standpunkt des Moralisten stellt. Aber die Geschichte und die, welche sie machen, die provi- denziellen Menschen, die Heroen, kennen diesen Standpunkt nicht. Die Geschichte ist eine Kette von Rechtsbrüchen im Namen eines neben dem alten Rechte all¬ mählich aus dringenden Interessen der Völker entsprossenen neuen und höheren. Bündnisse und Verträge werden hinfällig trotz des Eingangs, der die meisten auf ewig geschlossen sein läßt; und wenn die Interessen sich verschieben, wech¬ seln die Alliancen. Das wird so bleiben, bis einmal eine Entwickelungsphase eintritt, wo sich die gegenseitigen Interessen ausgeglichen haben und unter Kulturstaaten kein Krieg mehr zu führen sein wird. In Friedrichs Falle war *) Geschichte Englands im achtzehnten Jahrhundert von William Edward Hartpole Lecky. Uebersetzt von Ferdinand Liiwe, Erster Band. Leipzig und Heidel¬ berg, C. F. Wintersche Verlagshandlung, 1379.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/148>, abgerufen am 03.07.2024.