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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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ist. Man bilde sich nur nicht ein, daß der Judenhaß in die Massen künstlich
von Einzelnen hineingetragen werde; herausgewachsen ist er aus den Massen:
er ist die natürliche Fortsetzung des sogenannten Kulturkampfes.




politische Briefe.
21. Das neue Abgeordnetenhaus.

Die Wahlen vom 7. Oktober', in allen Zeitungen war es zu lesen, sind
ebenso überraschend für die Regierung wie für die Liberalen gewesen. Die
eine Seite hatte ihren Sieg, die andere ihre Niederlage nicht vorausgesehen,
und auf Seiten der Regierung wenigstens hat man daraus kein Hehl gemacht.
Nun kommen die Erklärungen und die Nutzanwendungen. Was die Erklä¬
rungen betrifft, so hören wir allerlei von konservativem Hauch, von reaktionären
Strömungen im Volke, von Einfluß der Regierungsmaschiuerie, von liberaler
Lässigkeit, Entmuthigung u. f. w., alles Dinge, von denen nichts oder wenig
vorhanden, und die besten Falls den Kern der Sache nicht berühren. Ein
Punkt ist vor allem klarzustellen: Diese Wahlen bedeuten nicht im geringsten
einen konservativen Parteisieg trotz der 163 von wirklichen oder sogenannten
Konservativen erlangten Mandate. Die Wählermasse hat so wenig wie jemals
Sympathie oder Verständniß für die konservative Parteidvktrin mit ihren
schrillten und Unklarheiten, die unsicher schwankt zwischen alten Absurditäten
und noch nicht entdeckten Entwürfen. Nein, diese Wahlen sind ein Vertrauens¬
votum für den Fürsten Bismarck, ein solches im höchsten Maße, nichts anderes
und nichts daneben. Es ist eine der Selbsttäuschungen, die mit dem Wesen
des Liberalismus zusammenhängen, zu wähnen, die große Menge des Volkes
aller Bildungsstufen sei jemals auf die Dauer für politische Ideale, schlechte
oder gute, zu erwärmen. Ein Volk ist entweder zufrieden, seines staatlichen
und gesellschaftlichen Besitzes froh, oder auch es empfindet, indem es noch
große Wünsche hat und in einer lebhaften politischen und gesellschaftlichen Bewe¬
gung begriffen ist, ein starkes Vertrauen zu einer erfolgreichen Führung. Dies
sind die glücklichen und gesunden Fälle. Die anderen Fälle sind die, wenn
ein Volk von der UnHaltbarkeit seiner Zustände sich mehr und mehr überzeugt,
zugleich aber auch das Vertrauen in den Willen und die Fähigkeit seiner
Regierer verliert. Dann ist es ans dem Wege, mit Aerzten aller Systeme Ver¬
suche anzustellen, und unter den Händen, in die es geräth, können sehr schlimme


ist. Man bilde sich nur nicht ein, daß der Judenhaß in die Massen künstlich
von Einzelnen hineingetragen werde; herausgewachsen ist er aus den Massen:
er ist die natürliche Fortsetzung des sogenannten Kulturkampfes.




politische Briefe.
21. Das neue Abgeordnetenhaus.

Die Wahlen vom 7. Oktober', in allen Zeitungen war es zu lesen, sind
ebenso überraschend für die Regierung wie für die Liberalen gewesen. Die
eine Seite hatte ihren Sieg, die andere ihre Niederlage nicht vorausgesehen,
und auf Seiten der Regierung wenigstens hat man daraus kein Hehl gemacht.
Nun kommen die Erklärungen und die Nutzanwendungen. Was die Erklä¬
rungen betrifft, so hören wir allerlei von konservativem Hauch, von reaktionären
Strömungen im Volke, von Einfluß der Regierungsmaschiuerie, von liberaler
Lässigkeit, Entmuthigung u. f. w., alles Dinge, von denen nichts oder wenig
vorhanden, und die besten Falls den Kern der Sache nicht berühren. Ein
Punkt ist vor allem klarzustellen: Diese Wahlen bedeuten nicht im geringsten
einen konservativen Parteisieg trotz der 163 von wirklichen oder sogenannten
Konservativen erlangten Mandate. Die Wählermasse hat so wenig wie jemals
Sympathie oder Verständniß für die konservative Parteidvktrin mit ihren
schrillten und Unklarheiten, die unsicher schwankt zwischen alten Absurditäten
und noch nicht entdeckten Entwürfen. Nein, diese Wahlen sind ein Vertrauens¬
votum für den Fürsten Bismarck, ein solches im höchsten Maße, nichts anderes
und nichts daneben. Es ist eine der Selbsttäuschungen, die mit dem Wesen
des Liberalismus zusammenhängen, zu wähnen, die große Menge des Volkes
aller Bildungsstufen sei jemals auf die Dauer für politische Ideale, schlechte
oder gute, zu erwärmen. Ein Volk ist entweder zufrieden, seines staatlichen
und gesellschaftlichen Besitzes froh, oder auch es empfindet, indem es noch
große Wünsche hat und in einer lebhaften politischen und gesellschaftlichen Bewe¬
gung begriffen ist, ein starkes Vertrauen zu einer erfolgreichen Führung. Dies
sind die glücklichen und gesunden Fälle. Die anderen Fälle sind die, wenn
ein Volk von der UnHaltbarkeit seiner Zustände sich mehr und mehr überzeugt,
zugleich aber auch das Vertrauen in den Willen und die Fähigkeit seiner
Regierer verliert. Dann ist es ans dem Wege, mit Aerzten aller Systeme Ver¬
suche anzustellen, und unter den Händen, in die es geräth, können sehr schlimme


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/130>, abgerufen am 03.07.2024.