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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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Ausstsche Nihilisten über Lnwickelung und Ziel des
Nihilismus.

Von Zeit zu Zeit wirft die Nachricht von einem blutigen Attentate auf
einen hochgestellten russischen Beamten ein unheimliches Licht auf die nihili¬
stische Verschwörung, die fast in allen Provinzen des weiten Reiches im Dun¬
klen schleicht und die ganze gegenwärtige Ordnung der Verhältnisse mit lang¬
samer Unterwühlung bedroht. Abgesehen von den großen politischen Mittel¬
punkten Rußland's, in denen natürlich die verschiedenartigsten Elemente
zusammenströmen, erscheint aber kaum ein anderer Landstrich so infizirt, wie
die südlichen Gouvernements. In Kijew fiel durch heimlichen Mord der Gens-
darmerie-Oberst v. Heyking, in Charkow soeben der Generalgouvemeur Fürst
Krapotkin, und stets standen Attentate dieser Art mit den Bestrebungen in
Verbindung, gefangene Nihilisten zu retten oder zu rächen. Und gerade im
Süden des Reiches tritt die Betheiligung der studirenden Jugend an diesen
verbrecherischen Umtrieben ganz besonders hervor, ja die beiden Universitäts¬
städte Kijew und Charkow sind offenbar in ganz hervorragender Weise zu
Brennpunkten nihilistischer Agitation geworden. Denn neben den allgemeinen,
in ganz Rußland wirksamen Ursachen dieser moralischen Seuche: der Erstickung
jedes politischen Lebens durch den Despotismus eines korrumpirten Becunten-
thums, dem Mangel einer wirklich religiös-sittlichen Einwirkung der entgeisteten
russisch-griechischen Kirche, der weitverbreiteten, nicht die Pietät, sondern die
Kritik dem geschichtlich Gewordenen gegenüber fördernden Halbbildung, dem
eigenthümlich phantastischen, leicht in's Extreme fallenden Charakter des russi¬
schen Volkes wirken im Süden noch ganz besondere lokale Faktoren mit. Hier
bäumt sich das kleiurussische Volksthum gegen die offizielle Herrschaft der Gro߬
russen auf, die jenem, wenn auch durch die griechische Kirche verbunden, doch im
Uebrigen kaum weniger fremdartig und eigenthümlich gegenüberstehen, als etwa
die Südslaven. Je weniger die Regierung bisher gethan hat, um diesen süd¬
russischen Stammes-Eigenthümlichkeiten Rechnung zu tragen, je rücksichtsloser sie
vielmehr jede selbständige Aeußerung auch auf dem Gebiete des Kulturlebens
niederhält, desto mehr scheint sich die südrussische Jugend, die naturgemäße
Trägerin nationaler Ideale, den nihilistischen Agitatoren in die Arme geworfen
zu haben, die mit der Zerstörung jeder staatlichen Organisation auch jeden be¬
engenden Druck zu beseitigen verheißt, welcher die eigenthümliche Entwickelung
kleinrussischen Wesens schmerzlich hemmt.

Auf diese, wie es scheint, außerhalb Rußland's noch fast unbeachtete Ursache


Ausstsche Nihilisten über Lnwickelung und Ziel des
Nihilismus.

Von Zeit zu Zeit wirft die Nachricht von einem blutigen Attentate auf
einen hochgestellten russischen Beamten ein unheimliches Licht auf die nihili¬
stische Verschwörung, die fast in allen Provinzen des weiten Reiches im Dun¬
klen schleicht und die ganze gegenwärtige Ordnung der Verhältnisse mit lang¬
samer Unterwühlung bedroht. Abgesehen von den großen politischen Mittel¬
punkten Rußland's, in denen natürlich die verschiedenartigsten Elemente
zusammenströmen, erscheint aber kaum ein anderer Landstrich so infizirt, wie
die südlichen Gouvernements. In Kijew fiel durch heimlichen Mord der Gens-
darmerie-Oberst v. Heyking, in Charkow soeben der Generalgouvemeur Fürst
Krapotkin, und stets standen Attentate dieser Art mit den Bestrebungen in
Verbindung, gefangene Nihilisten zu retten oder zu rächen. Und gerade im
Süden des Reiches tritt die Betheiligung der studirenden Jugend an diesen
verbrecherischen Umtrieben ganz besonders hervor, ja die beiden Universitäts¬
städte Kijew und Charkow sind offenbar in ganz hervorragender Weise zu
Brennpunkten nihilistischer Agitation geworden. Denn neben den allgemeinen,
in ganz Rußland wirksamen Ursachen dieser moralischen Seuche: der Erstickung
jedes politischen Lebens durch den Despotismus eines korrumpirten Becunten-
thums, dem Mangel einer wirklich religiös-sittlichen Einwirkung der entgeisteten
russisch-griechischen Kirche, der weitverbreiteten, nicht die Pietät, sondern die
Kritik dem geschichtlich Gewordenen gegenüber fördernden Halbbildung, dem
eigenthümlich phantastischen, leicht in's Extreme fallenden Charakter des russi¬
schen Volkes wirken im Süden noch ganz besondere lokale Faktoren mit. Hier
bäumt sich das kleiurussische Volksthum gegen die offizielle Herrschaft der Gro߬
russen auf, die jenem, wenn auch durch die griechische Kirche verbunden, doch im
Uebrigen kaum weniger fremdartig und eigenthümlich gegenüberstehen, als etwa
die Südslaven. Je weniger die Regierung bisher gethan hat, um diesen süd¬
russischen Stammes-Eigenthümlichkeiten Rechnung zu tragen, je rücksichtsloser sie
vielmehr jede selbständige Aeußerung auch auf dem Gebiete des Kulturlebens
niederhält, desto mehr scheint sich die südrussische Jugend, die naturgemäße
Trägerin nationaler Ideale, den nihilistischen Agitatoren in die Arme geworfen
zu haben, die mit der Zerstörung jeder staatlichen Organisation auch jeden be¬
engenden Druck zu beseitigen verheißt, welcher die eigenthümliche Entwickelung
kleinrussischen Wesens schmerzlich hemmt.

Auf diese, wie es scheint, außerhalb Rußland's noch fast unbeachtete Ursache


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[0486] Ausstsche Nihilisten über Lnwickelung und Ziel des Nihilismus. Von Zeit zu Zeit wirft die Nachricht von einem blutigen Attentate auf einen hochgestellten russischen Beamten ein unheimliches Licht auf die nihili¬ stische Verschwörung, die fast in allen Provinzen des weiten Reiches im Dun¬ klen schleicht und die ganze gegenwärtige Ordnung der Verhältnisse mit lang¬ samer Unterwühlung bedroht. Abgesehen von den großen politischen Mittel¬ punkten Rußland's, in denen natürlich die verschiedenartigsten Elemente zusammenströmen, erscheint aber kaum ein anderer Landstrich so infizirt, wie die südlichen Gouvernements. In Kijew fiel durch heimlichen Mord der Gens- darmerie-Oberst v. Heyking, in Charkow soeben der Generalgouvemeur Fürst Krapotkin, und stets standen Attentate dieser Art mit den Bestrebungen in Verbindung, gefangene Nihilisten zu retten oder zu rächen. Und gerade im Süden des Reiches tritt die Betheiligung der studirenden Jugend an diesen verbrecherischen Umtrieben ganz besonders hervor, ja die beiden Universitäts¬ städte Kijew und Charkow sind offenbar in ganz hervorragender Weise zu Brennpunkten nihilistischer Agitation geworden. Denn neben den allgemeinen, in ganz Rußland wirksamen Ursachen dieser moralischen Seuche: der Erstickung jedes politischen Lebens durch den Despotismus eines korrumpirten Becunten- thums, dem Mangel einer wirklich religiös-sittlichen Einwirkung der entgeisteten russisch-griechischen Kirche, der weitverbreiteten, nicht die Pietät, sondern die Kritik dem geschichtlich Gewordenen gegenüber fördernden Halbbildung, dem eigenthümlich phantastischen, leicht in's Extreme fallenden Charakter des russi¬ schen Volkes wirken im Süden noch ganz besondere lokale Faktoren mit. Hier bäumt sich das kleiurussische Volksthum gegen die offizielle Herrschaft der Gro߬ russen auf, die jenem, wenn auch durch die griechische Kirche verbunden, doch im Uebrigen kaum weniger fremdartig und eigenthümlich gegenüberstehen, als etwa die Südslaven. Je weniger die Regierung bisher gethan hat, um diesen süd¬ russischen Stammes-Eigenthümlichkeiten Rechnung zu tragen, je rücksichtsloser sie vielmehr jede selbständige Aeußerung auch auf dem Gebiete des Kulturlebens niederhält, desto mehr scheint sich die südrussische Jugend, die naturgemäße Trägerin nationaler Ideale, den nihilistischen Agitatoren in die Arme geworfen zu haben, die mit der Zerstörung jeder staatlichen Organisation auch jeden be¬ engenden Druck zu beseitigen verheißt, welcher die eigenthümliche Entwickelung kleinrussischen Wesens schmerzlich hemmt. Auf diese, wie es scheint, außerhalb Rußland's noch fast unbeachtete Ursache

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/486>, abgerufen am 03.07.2024.