Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Bulgaren.
i.

Seit einigen Wochen sieht das Volk der Bulgaren in der alten Czaren-
stadt Tirnowa seine Vertreter versammelt, und Vieler Augen in den Slaven¬
ländern und wohl auch in Deutschland blicken mit Theilnahme auf die dortigen
Vorgänge. Eine vierhundert Jahre unter dem Türkenjoche nur vegetirende
Nation soll in der ihr eroberten Freiheit wieder zu leben beginnen, wieder
einen eigenen Staat bilden, und wenn zu wünschen ist, daß dieser Prozeß einen
ruhigen und gedeihlichen Verlauf nehme, so sind doch Zweifel erlaubt, daß
dies in Wirklichkeit geschehen werde. Mit anderen Worten: wir hegen Be¬
denken, ob die Bulgaren reif genug sind, um unter der ihrer Nationalversamm¬
lung zur Annahme vorgelegten, mit allen konstitutionellen Freiheiten ausge¬
statteten Verfassung ohne Schaden existiren zu können; wir denken an die
Nachbarstaaten Serbien und Rumänien und fürchten in Betreff Bulgarien's
eine Zeit voll innerer Stürme, voll Parteiräuke und Umsturzversuche, wie wir
sie dort seit Jahren beobachteten. selbstsüchtige Politiker, Streber aller Art,
ausländische Einflüsse, die Eifersucht Rußland's, Oesterreich's und England's
werden sich aller Wahrscheinlichkeit nach geltend machen und den Frieden stören.
Zunächst aber wird der Umstand, daß nur ein Theil des bulgarischen Volkes
von der Herrschaft der Pforte ganz befreit und in den Stand gesetzt worden
ist, sich zu einem Staate zu konstituiren, eine Quelle von Bestrebungen sein,
die Unfrieden und Unsicherheit im Gefolge haben müssen, und die sicher nicht
eher aufhören werden, als bis Ostrumelien und Bulgarien vereinigt sind, wie
die Walachei in dem jetzigen Rumänien mit der Moldau. Hätte Fürst Gort-
schakoff vor dem Beginne des Krieges, der die Bulgaren befreite, richtiger
operirt, hätte er sich zu rechter Zeit mit Oesterreich-Ungarn zu verständigen
gewußt, so würde man auf diese Erfüllung des Wunsches der Bulgaren ver¬
muthlich nicht mehr zu warten haben, und so würde sein Bedürfniß nach dem
Ruhme eines Völkerretters nicht genöthigt fein, einen halben Erfolg von den
unter seinem Einflüsse geschriebenen Blättern als einen ganzen preisen zu lassen.


Grenzboten I. 1S79. S8
Die Bulgaren.
i.

Seit einigen Wochen sieht das Volk der Bulgaren in der alten Czaren-
stadt Tirnowa seine Vertreter versammelt, und Vieler Augen in den Slaven¬
ländern und wohl auch in Deutschland blicken mit Theilnahme auf die dortigen
Vorgänge. Eine vierhundert Jahre unter dem Türkenjoche nur vegetirende
Nation soll in der ihr eroberten Freiheit wieder zu leben beginnen, wieder
einen eigenen Staat bilden, und wenn zu wünschen ist, daß dieser Prozeß einen
ruhigen und gedeihlichen Verlauf nehme, so sind doch Zweifel erlaubt, daß
dies in Wirklichkeit geschehen werde. Mit anderen Worten: wir hegen Be¬
denken, ob die Bulgaren reif genug sind, um unter der ihrer Nationalversamm¬
lung zur Annahme vorgelegten, mit allen konstitutionellen Freiheiten ausge¬
statteten Verfassung ohne Schaden existiren zu können; wir denken an die
Nachbarstaaten Serbien und Rumänien und fürchten in Betreff Bulgarien's
eine Zeit voll innerer Stürme, voll Parteiräuke und Umsturzversuche, wie wir
sie dort seit Jahren beobachteten. selbstsüchtige Politiker, Streber aller Art,
ausländische Einflüsse, die Eifersucht Rußland's, Oesterreich's und England's
werden sich aller Wahrscheinlichkeit nach geltend machen und den Frieden stören.
Zunächst aber wird der Umstand, daß nur ein Theil des bulgarischen Volkes
von der Herrschaft der Pforte ganz befreit und in den Stand gesetzt worden
ist, sich zu einem Staate zu konstituiren, eine Quelle von Bestrebungen sein,
die Unfrieden und Unsicherheit im Gefolge haben müssen, und die sicher nicht
eher aufhören werden, als bis Ostrumelien und Bulgarien vereinigt sind, wie
die Walachei in dem jetzigen Rumänien mit der Moldau. Hätte Fürst Gort-
schakoff vor dem Beginne des Krieges, der die Bulgaren befreite, richtiger
operirt, hätte er sich zu rechter Zeit mit Oesterreich-Ungarn zu verständigen
gewußt, so würde man auf diese Erfüllung des Wunsches der Bulgaren ver¬
muthlich nicht mehr zu warten haben, und so würde sein Bedürfniß nach dem
Ruhme eines Völkerretters nicht genöthigt fein, einen halben Erfolg von den
unter seinem Einflüsse geschriebenen Blättern als einen ganzen preisen zu lassen.


Grenzboten I. 1S79. S8
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0461" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/141872"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die Bulgaren.<lb/>
i. </head><lb/>
          <p xml:id="ID_1348"> Seit einigen Wochen sieht das Volk der Bulgaren in der alten Czaren-<lb/>
stadt Tirnowa seine Vertreter versammelt, und Vieler Augen in den Slaven¬<lb/>
ländern und wohl auch in Deutschland blicken mit Theilnahme auf die dortigen<lb/>
Vorgänge.  Eine vierhundert Jahre unter dem Türkenjoche nur vegetirende<lb/>
Nation soll in der ihr eroberten Freiheit wieder zu leben beginnen, wieder<lb/>
einen eigenen Staat bilden, und wenn zu wünschen ist, daß dieser Prozeß einen<lb/>
ruhigen und gedeihlichen Verlauf nehme, so sind doch Zweifel erlaubt, daß<lb/>
dies in Wirklichkeit geschehen werde. Mit anderen Worten: wir hegen Be¬<lb/>
denken, ob die Bulgaren reif genug sind, um unter der ihrer Nationalversamm¬<lb/>
lung zur Annahme vorgelegten, mit allen konstitutionellen Freiheiten ausge¬<lb/>
statteten Verfassung ohne Schaden existiren zu können; wir denken an die<lb/>
Nachbarstaaten Serbien und Rumänien und fürchten in Betreff Bulgarien's<lb/>
eine Zeit voll innerer Stürme, voll Parteiräuke und Umsturzversuche, wie wir<lb/>
sie dort seit Jahren beobachteten. selbstsüchtige Politiker, Streber aller Art,<lb/>
ausländische Einflüsse, die Eifersucht Rußland's, Oesterreich's und England's<lb/>
werden sich aller Wahrscheinlichkeit nach geltend machen und den Frieden stören.<lb/>
Zunächst aber wird der Umstand, daß nur ein Theil des bulgarischen Volkes<lb/>
von der Herrschaft der Pforte ganz befreit und in den Stand gesetzt worden<lb/>
ist, sich zu einem Staate zu konstituiren, eine Quelle von Bestrebungen sein,<lb/>
die Unfrieden und Unsicherheit im Gefolge haben müssen, und die sicher nicht<lb/>
eher aufhören werden, als bis Ostrumelien und Bulgarien vereinigt sind, wie<lb/>
die Walachei in dem jetzigen Rumänien mit der Moldau. Hätte Fürst Gort-<lb/>
schakoff vor dem Beginne des Krieges, der die Bulgaren befreite, richtiger<lb/>
operirt, hätte er sich zu rechter Zeit mit Oesterreich-Ungarn zu verständigen<lb/>
gewußt, so würde man auf diese Erfüllung des Wunsches der Bulgaren ver¬<lb/>
muthlich nicht mehr zu warten haben, und so würde sein Bedürfniß nach dem<lb/>
Ruhme eines Völkerretters nicht genöthigt fein, einen halben Erfolg von den<lb/>
unter seinem Einflüsse geschriebenen Blättern als einen ganzen preisen zu lassen.</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I. 1S79. S8</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0461] Die Bulgaren. i. Seit einigen Wochen sieht das Volk der Bulgaren in der alten Czaren- stadt Tirnowa seine Vertreter versammelt, und Vieler Augen in den Slaven¬ ländern und wohl auch in Deutschland blicken mit Theilnahme auf die dortigen Vorgänge. Eine vierhundert Jahre unter dem Türkenjoche nur vegetirende Nation soll in der ihr eroberten Freiheit wieder zu leben beginnen, wieder einen eigenen Staat bilden, und wenn zu wünschen ist, daß dieser Prozeß einen ruhigen und gedeihlichen Verlauf nehme, so sind doch Zweifel erlaubt, daß dies in Wirklichkeit geschehen werde. Mit anderen Worten: wir hegen Be¬ denken, ob die Bulgaren reif genug sind, um unter der ihrer Nationalversamm¬ lung zur Annahme vorgelegten, mit allen konstitutionellen Freiheiten ausge¬ statteten Verfassung ohne Schaden existiren zu können; wir denken an die Nachbarstaaten Serbien und Rumänien und fürchten in Betreff Bulgarien's eine Zeit voll innerer Stürme, voll Parteiräuke und Umsturzversuche, wie wir sie dort seit Jahren beobachteten. selbstsüchtige Politiker, Streber aller Art, ausländische Einflüsse, die Eifersucht Rußland's, Oesterreich's und England's werden sich aller Wahrscheinlichkeit nach geltend machen und den Frieden stören. Zunächst aber wird der Umstand, daß nur ein Theil des bulgarischen Volkes von der Herrschaft der Pforte ganz befreit und in den Stand gesetzt worden ist, sich zu einem Staate zu konstituiren, eine Quelle von Bestrebungen sein, die Unfrieden und Unsicherheit im Gefolge haben müssen, und die sicher nicht eher aufhören werden, als bis Ostrumelien und Bulgarien vereinigt sind, wie die Walachei in dem jetzigen Rumänien mit der Moldau. Hätte Fürst Gort- schakoff vor dem Beginne des Krieges, der die Bulgaren befreite, richtiger operirt, hätte er sich zu rechter Zeit mit Oesterreich-Ungarn zu verständigen gewußt, so würde man auf diese Erfüllung des Wunsches der Bulgaren ver¬ muthlich nicht mehr zu warten haben, und so würde sein Bedürfniß nach dem Ruhme eines Völkerretters nicht genöthigt fein, einen halben Erfolg von den unter seinem Einflüsse geschriebenen Blättern als einen ganzen preisen zu lassen. Grenzboten I. 1S79. S8

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/461
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/461>, abgerufen am 29.06.2024.