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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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Die deutsche Literaten 1752 -1756.
V Julian Schmidt. onIII.

Im Drang seiner anderweitigen Beschäftigungen hatte Lessing immer
noch einige Fühlung mit den theologischen Streitschriften behalten. In der
Geschichte der Reformation, die er in Wittenberg gründlich studirt, fand er
viele vom Parteigeist eingegebene Irrthümer. Er glaubte, Luthers Charakter
nicht zu schädigen, wenn er nachwies, daß er in einzelnen Fällen stark im
Unrecht war.

"Genug, daß durch die Reformation unendlich viel Gutes ist gestiftet
worden: was gehen uns die Werkzeuge an, die Gott dazu gebraucht hat? Er
wählt nicht die untadelhaftesten, sondern die bequemsten." -- "Ein Schrift¬
steller hatte einen witzigen Einfall: die Reformation sei in Deutschland ein
Werk des Eigennutzes, in England ein Werk der Liebe und im liederreichen
Frankreich das Werk eines Gassenhauers gewesen. Man hat sich viel Mühe
gegeben, diesen Einfall zu widerlegen: als ob ein Einfall widerlegt werden
könnte! Ihm sein Gift zu nehmen, hätte man ihn nur so ausdrücken dürfen:
in Deutschland hat die ewige Weisheit, welche Alles zu ihrem Zweck zu lenken
weiß, die Reformation durch den Eigennutz, in England durch die Liebe und
in Frankreich durch ein Lied gewirkt."

Les sing's theologische Kritiken werden durchweg von einem Grundge¬
danken getragen: man soll sowohl von der unfruchtbaren dogmatischen Polemik
wie von dem unfruchtbaren Bemühen ablassen, unvereinbare Dogmen zusammen¬
zuflicken. Nicht die Uebereinstimmung in Meinungen und Bekenntnissen, son¬
dern die Uebereinstimmung in tugendhaften Handlungen macht das Christen¬
thum. "Dieser Grundsatz ist darum nicht unwahr, weil es der Grundsatz der
Herrnhuter ist."

"Der Mensch ward zum Thun und nicht zum Vernünfteln geschaffen. --
Glückselige Zeiten, als alle Weisheit in kurzen Lebensregeln bestand! Sie waren
zu glückselig, als daß sie lange hätten dauern können. Die Schüler der sieben
Weisen glaubten ihre Lehren bald zu übersehn. Wahrheiten, die jeder fassen
kann, waren ihrer Neugier eine allzuleichte Nahrung. Der Himmel, vorher
der Gegenstand ihrer Bewunderung, ward das Feld ihrer Muthmaßungen. --
Der weiseste unter den Menschen bemühte sich, die Lehrbegierde von diesem
verwegenen Flug zurückzuholen: thörichte Sterbliche, was über euch ist, ist


Die deutsche Literaten 1752 -1756.
V Julian Schmidt. onIII.

Im Drang seiner anderweitigen Beschäftigungen hatte Lessing immer
noch einige Fühlung mit den theologischen Streitschriften behalten. In der
Geschichte der Reformation, die er in Wittenberg gründlich studirt, fand er
viele vom Parteigeist eingegebene Irrthümer. Er glaubte, Luthers Charakter
nicht zu schädigen, wenn er nachwies, daß er in einzelnen Fällen stark im
Unrecht war.

„Genug, daß durch die Reformation unendlich viel Gutes ist gestiftet
worden: was gehen uns die Werkzeuge an, die Gott dazu gebraucht hat? Er
wählt nicht die untadelhaftesten, sondern die bequemsten." — „Ein Schrift¬
steller hatte einen witzigen Einfall: die Reformation sei in Deutschland ein
Werk des Eigennutzes, in England ein Werk der Liebe und im liederreichen
Frankreich das Werk eines Gassenhauers gewesen. Man hat sich viel Mühe
gegeben, diesen Einfall zu widerlegen: als ob ein Einfall widerlegt werden
könnte! Ihm sein Gift zu nehmen, hätte man ihn nur so ausdrücken dürfen:
in Deutschland hat die ewige Weisheit, welche Alles zu ihrem Zweck zu lenken
weiß, die Reformation durch den Eigennutz, in England durch die Liebe und
in Frankreich durch ein Lied gewirkt."

Les sing's theologische Kritiken werden durchweg von einem Grundge¬
danken getragen: man soll sowohl von der unfruchtbaren dogmatischen Polemik
wie von dem unfruchtbaren Bemühen ablassen, unvereinbare Dogmen zusammen¬
zuflicken. Nicht die Uebereinstimmung in Meinungen und Bekenntnissen, son¬
dern die Uebereinstimmung in tugendhaften Handlungen macht das Christen¬
thum. „Dieser Grundsatz ist darum nicht unwahr, weil es der Grundsatz der
Herrnhuter ist."

„Der Mensch ward zum Thun und nicht zum Vernünfteln geschaffen. —
Glückselige Zeiten, als alle Weisheit in kurzen Lebensregeln bestand! Sie waren
zu glückselig, als daß sie lange hätten dauern können. Die Schüler der sieben
Weisen glaubten ihre Lehren bald zu übersehn. Wahrheiten, die jeder fassen
kann, waren ihrer Neugier eine allzuleichte Nahrung. Der Himmel, vorher
der Gegenstand ihrer Bewunderung, ward das Feld ihrer Muthmaßungen. —
Der weiseste unter den Menschen bemühte sich, die Lehrbegierde von diesem
verwegenen Flug zurückzuholen: thörichte Sterbliche, was über euch ist, ist


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[0100] Die deutsche Literaten 1752 -1756. V Julian Schmidt. onIII. Im Drang seiner anderweitigen Beschäftigungen hatte Lessing immer noch einige Fühlung mit den theologischen Streitschriften behalten. In der Geschichte der Reformation, die er in Wittenberg gründlich studirt, fand er viele vom Parteigeist eingegebene Irrthümer. Er glaubte, Luthers Charakter nicht zu schädigen, wenn er nachwies, daß er in einzelnen Fällen stark im Unrecht war. „Genug, daß durch die Reformation unendlich viel Gutes ist gestiftet worden: was gehen uns die Werkzeuge an, die Gott dazu gebraucht hat? Er wählt nicht die untadelhaftesten, sondern die bequemsten." — „Ein Schrift¬ steller hatte einen witzigen Einfall: die Reformation sei in Deutschland ein Werk des Eigennutzes, in England ein Werk der Liebe und im liederreichen Frankreich das Werk eines Gassenhauers gewesen. Man hat sich viel Mühe gegeben, diesen Einfall zu widerlegen: als ob ein Einfall widerlegt werden könnte! Ihm sein Gift zu nehmen, hätte man ihn nur so ausdrücken dürfen: in Deutschland hat die ewige Weisheit, welche Alles zu ihrem Zweck zu lenken weiß, die Reformation durch den Eigennutz, in England durch die Liebe und in Frankreich durch ein Lied gewirkt." Les sing's theologische Kritiken werden durchweg von einem Grundge¬ danken getragen: man soll sowohl von der unfruchtbaren dogmatischen Polemik wie von dem unfruchtbaren Bemühen ablassen, unvereinbare Dogmen zusammen¬ zuflicken. Nicht die Uebereinstimmung in Meinungen und Bekenntnissen, son¬ dern die Uebereinstimmung in tugendhaften Handlungen macht das Christen¬ thum. „Dieser Grundsatz ist darum nicht unwahr, weil es der Grundsatz der Herrnhuter ist." „Der Mensch ward zum Thun und nicht zum Vernünfteln geschaffen. — Glückselige Zeiten, als alle Weisheit in kurzen Lebensregeln bestand! Sie waren zu glückselig, als daß sie lange hätten dauern können. Die Schüler der sieben Weisen glaubten ihre Lehren bald zu übersehn. Wahrheiten, die jeder fassen kann, waren ihrer Neugier eine allzuleichte Nahrung. Der Himmel, vorher der Gegenstand ihrer Bewunderung, ward das Feld ihrer Muthmaßungen. — Der weiseste unter den Menschen bemühte sich, die Lehrbegierde von diesem verwegenen Flug zurückzuholen: thörichte Sterbliche, was über euch ist, ist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/100>, abgerufen am 27.07.2024.