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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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Zeitgenossen alle vor Scham das Haupt verhüllen. Aber wer soll zahlen,
und, von den jetzigen Betheiligten, wer verlieren? Eine Schimmelkruste be¬
deckt schon längst die Aktien und vollends die Zahl 300 ist unlesbar ge¬
Y- worden.




Dom preußischen Landtag.

Die ersten Sitzungen der vergangenen Woche haben die fortgesetzte Einzel¬
berathung des Staatshaushalts zum Gegenstand gehabt. Wir gehen nur
auf die wichtigeren Jncidentpunkte ein, deren sich in den Sitzungen vom 19.
und vom 22. Februar keine darboten. Die Berathung des Staatshaushalts
wurde am 23. Februar durch den sogenannten Schwertnstag unterbrochen.
Der Mittwoch nämlich ist nach einem aus der Initiative des verstor¬
benen Grafen Schwerin herrührenden Beschlusse für Anträge der Mitglieder
bestimmt. Diesmal kam zuerst eine Jnterpellation des Abg. Windthorst-
Btelefeld zur Verhandlung, dahingehend, wann der Kultusminister das längst
verheißene Unterrichtsgesetz einbringen werde. Es ist wirklich eine für un¬
parlamentarische Sterbliche absolut unverständliche Gewohnheit der Herren
Abgeordneten, in demselben Athem zu klagen über Arbeitsüberfüllung und
Gesetzfabrikation und dann wieder die Regierung anzugreifen, daß sie nicht
tausend Vorlagen mehr eingebracht hat. Da ist also Herr Windthorst-Biele-
feld von der Fortschrittspartei und vermißt das Unterrichtsgesetz, da ist Herr
Virchow und vermißt bloß: Kreisordnung, Provinzialordnung und Städte¬
ordnung für Rheinland und Westfalen, außerdem womöglich eine ländliche
Gemeindeordnung für die gesammte Monarchie. Wenn die Regierung nur
diese vermißten Vorlagen alle eingebracht hätte, so würde der Landtag den
ganzen Sommer hindurch bis zum Wiederzusammentritt des Reichstags arbeiten
müssen, ohne Aussicht, die gestellte Aufgabe zu erledigen. Einer solchen Sach¬
lage gegenüber können unparlamentarische Sterbliche nicht umhin, auf den
Gedanken zu kommen, daß die Forderungen nur gestellt werden, damit die
Fordernden den Ruhm des Antriebes und die Regierung den Tadel des Zögerns
hat, während die Fordernden herzlich froh sind, daß das, was sie sich zu
wollen den Anschein geben, durch die Gesetze der menschlichen Natur verboten
ist. Man kann nicht umhin, die Minister zu bedauern, die Zeit und Kraft
daran setzen müssen, zu beweisen, daß das Unmögliche unmöglich ist. Man
möchte wünschen, es könnten den Abgeordneten bald einmal die so und fo
viel tausend Gesetze, die zum Ausbau des deutschen Staates im Reich und
in Preußen gehören, aus einmal zugestellt werden, während die Minister Urlaub
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Zeitgenossen alle vor Scham das Haupt verhüllen. Aber wer soll zahlen,
und, von den jetzigen Betheiligten, wer verlieren? Eine Schimmelkruste be¬
deckt schon längst die Aktien und vollends die Zahl 300 ist unlesbar ge¬
Y- worden.




Dom preußischen Landtag.

Die ersten Sitzungen der vergangenen Woche haben die fortgesetzte Einzel¬
berathung des Staatshaushalts zum Gegenstand gehabt. Wir gehen nur
auf die wichtigeren Jncidentpunkte ein, deren sich in den Sitzungen vom 19.
und vom 22. Februar keine darboten. Die Berathung des Staatshaushalts
wurde am 23. Februar durch den sogenannten Schwertnstag unterbrochen.
Der Mittwoch nämlich ist nach einem aus der Initiative des verstor¬
benen Grafen Schwerin herrührenden Beschlusse für Anträge der Mitglieder
bestimmt. Diesmal kam zuerst eine Jnterpellation des Abg. Windthorst-
Btelefeld zur Verhandlung, dahingehend, wann der Kultusminister das längst
verheißene Unterrichtsgesetz einbringen werde. Es ist wirklich eine für un¬
parlamentarische Sterbliche absolut unverständliche Gewohnheit der Herren
Abgeordneten, in demselben Athem zu klagen über Arbeitsüberfüllung und
Gesetzfabrikation und dann wieder die Regierung anzugreifen, daß sie nicht
tausend Vorlagen mehr eingebracht hat. Da ist also Herr Windthorst-Biele-
feld von der Fortschrittspartei und vermißt das Unterrichtsgesetz, da ist Herr
Virchow und vermißt bloß: Kreisordnung, Provinzialordnung und Städte¬
ordnung für Rheinland und Westfalen, außerdem womöglich eine ländliche
Gemeindeordnung für die gesammte Monarchie. Wenn die Regierung nur
diese vermißten Vorlagen alle eingebracht hätte, so würde der Landtag den
ganzen Sommer hindurch bis zum Wiederzusammentritt des Reichstags arbeiten
müssen, ohne Aussicht, die gestellte Aufgabe zu erledigen. Einer solchen Sach¬
lage gegenüber können unparlamentarische Sterbliche nicht umhin, auf den
Gedanken zu kommen, daß die Forderungen nur gestellt werden, damit die
Fordernden den Ruhm des Antriebes und die Regierung den Tadel des Zögerns
hat, während die Fordernden herzlich froh sind, daß das, was sie sich zu
wollen den Anschein geben, durch die Gesetze der menschlichen Natur verboten
ist. Man kann nicht umhin, die Minister zu bedauern, die Zeit und Kraft
daran setzen müssen, zu beweisen, daß das Unmögliche unmöglich ist. Man
möchte wünschen, es könnten den Abgeordneten bald einmal die so und fo
viel tausend Gesetze, die zum Ausbau des deutschen Staates im Reich und
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[0403] Zeitgenossen alle vor Scham das Haupt verhüllen. Aber wer soll zahlen, und, von den jetzigen Betheiligten, wer verlieren? Eine Schimmelkruste be¬ deckt schon längst die Aktien und vollends die Zahl 300 ist unlesbar ge¬ Y- worden. Dom preußischen Landtag. Die ersten Sitzungen der vergangenen Woche haben die fortgesetzte Einzel¬ berathung des Staatshaushalts zum Gegenstand gehabt. Wir gehen nur auf die wichtigeren Jncidentpunkte ein, deren sich in den Sitzungen vom 19. und vom 22. Februar keine darboten. Die Berathung des Staatshaushalts wurde am 23. Februar durch den sogenannten Schwertnstag unterbrochen. Der Mittwoch nämlich ist nach einem aus der Initiative des verstor¬ benen Grafen Schwerin herrührenden Beschlusse für Anträge der Mitglieder bestimmt. Diesmal kam zuerst eine Jnterpellation des Abg. Windthorst- Btelefeld zur Verhandlung, dahingehend, wann der Kultusminister das längst verheißene Unterrichtsgesetz einbringen werde. Es ist wirklich eine für un¬ parlamentarische Sterbliche absolut unverständliche Gewohnheit der Herren Abgeordneten, in demselben Athem zu klagen über Arbeitsüberfüllung und Gesetzfabrikation und dann wieder die Regierung anzugreifen, daß sie nicht tausend Vorlagen mehr eingebracht hat. Da ist also Herr Windthorst-Biele- feld von der Fortschrittspartei und vermißt das Unterrichtsgesetz, da ist Herr Virchow und vermißt bloß: Kreisordnung, Provinzialordnung und Städte¬ ordnung für Rheinland und Westfalen, außerdem womöglich eine ländliche Gemeindeordnung für die gesammte Monarchie. Wenn die Regierung nur diese vermißten Vorlagen alle eingebracht hätte, so würde der Landtag den ganzen Sommer hindurch bis zum Wiederzusammentritt des Reichstags arbeiten müssen, ohne Aussicht, die gestellte Aufgabe zu erledigen. Einer solchen Sach¬ lage gegenüber können unparlamentarische Sterbliche nicht umhin, auf den Gedanken zu kommen, daß die Forderungen nur gestellt werden, damit die Fordernden den Ruhm des Antriebes und die Regierung den Tadel des Zögerns hat, während die Fordernden herzlich froh sind, daß das, was sie sich zu wollen den Anschein geben, durch die Gesetze der menschlichen Natur verboten ist. Man kann nicht umhin, die Minister zu bedauern, die Zeit und Kraft daran setzen müssen, zu beweisen, daß das Unmögliche unmöglich ist. Man möchte wünschen, es könnten den Abgeordneten bald einmal die so und fo viel tausend Gesetze, die zum Ausbau des deutschen Staates im Reich und in Preußen gehören, aus einmal zugestellt werden, während die Minister Urlaub i>

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/403>, abgerufen am 20.09.2024.