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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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Männern fehlt, welche, von Reiselust getrieben. Afrika durchwandern, ohne
daß für wissenschaftliche oder civilisatorische Zwecke irgend ein Gewinn ab¬
fällt: Er war als Handelsmann ins Land gekommen; als Sprachforscher und
Ethnograph hatte er Land und Leute liebgewonnen, als Gouverneur konnte
er hoffen, alle seine Pläne zu verwirklichen -- die Wissenschaft, die Civili¬
sation , der Handel sollte hier frische Blüthen treiben auf fruchtbarem Boden.
Wie M. seine Culturausgabe auffaßte, dafür ist ein günstiges Zeichen das
Geschimpfe der sogenannten Missionäre: er machte es eben glücklicherweise nicht
wie sie. Er wollte vor allem zuerst, "daß Schulen gestiftet würden". "Man
lehre das Volk lesen, man beschenke es mit Buchdruckereien, man übersetze fa߬
liche Bücher, die von Confession abstrahiren und allgemeine Bildung bieten.
Munzinger zeigte so wenig Voreingenommenheit für diese oder jene religiöse
Propaganda, daß sogar die großen Fortschritte des Islam, der in wenig
Jahren ganze Stämme für sich gewann, und den er unumwunden für die
Religion erklärte, welche dem Charakter der Afrikaner am meisten zusage,
ihm keine rechtlichen Besorgnisse einflößten ... M. sollte seinen hohen Plan
nicht erfüllt sehen. Als er sich anschickte seinen Leuten Sicherheit gegen
räuberische Angriffe zu verschaffen und auch das eigentliche Abyssinien dem Ver¬
kehr und damit der Cultur zu öffnen, fiel er als Opfer seines allzugroßen
Vertrauens im Lande der wilden Gattaneger, mit ihm sein treues Weib.
Nicht ohne trübe Ahnung hatte er jenes Gebiet betreten, aber ein wahrer
Missionär, wie er war, durfte Angesichts der hohen Ziele jenen düstern Bildern
keinen Einzug ins Herz verstatten. Er starb am Is. Nov. 1875.

Was nun schließlich über "Land und Leute" bei uns zu sagen ist, läßt sich
füglich mit dem Satze abthun: In der Politik Meeresstille (denn die Banknoten¬
bewegung, d. h. das gegen das Banknotengesetz ergriffene Referendum, wo¬
durch jenes wahrscheinlich fallen wird, hat mit Politik sehr wenig zu thun),
in der internationalen Verkehrsfra ge dagegen, die auch zugleich eine
gewaltige Staats- und privatöeonomische ist, eine wahrhaft erschütternde
Bewegung durch die so eben zu Tage getretene offiziell eingestandene Cala-
mität im Gotthardunternehmen. Um nicht weniger als 102 Millionen
übersteigen die Kosten den Voranschlag, welchen seiner Zeit die internationale
Conferenz der theilnehmenden Staaten als Grundlage für die Emission der
Obligationen und Aktien annahm. Wie es kam, kommen konnte, daß
diese Basis nach einigen Jahren sich als so total fehlerhaft erwies, ist der¬
malen noch ein Räthsel, welches die Faktoren der Lohnvertheuerung, der steigen¬
den Preise für Material und andere rein ökonomische Einflüsse nicht im entfern¬
testen zu lösen vermögen. Da muß grobe Verrechnung zu Grunde liegen. Und
was nun? Vom Fallenlassen des Riesenwerkes kann schlechterdings keine Rede
ein: da müßte nicht bildlich "der Genius des Jahrhunderts", da müßten wir


Männern fehlt, welche, von Reiselust getrieben. Afrika durchwandern, ohne
daß für wissenschaftliche oder civilisatorische Zwecke irgend ein Gewinn ab¬
fällt: Er war als Handelsmann ins Land gekommen; als Sprachforscher und
Ethnograph hatte er Land und Leute liebgewonnen, als Gouverneur konnte
er hoffen, alle seine Pläne zu verwirklichen — die Wissenschaft, die Civili¬
sation , der Handel sollte hier frische Blüthen treiben auf fruchtbarem Boden.
Wie M. seine Culturausgabe auffaßte, dafür ist ein günstiges Zeichen das
Geschimpfe der sogenannten Missionäre: er machte es eben glücklicherweise nicht
wie sie. Er wollte vor allem zuerst, „daß Schulen gestiftet würden". „Man
lehre das Volk lesen, man beschenke es mit Buchdruckereien, man übersetze fa߬
liche Bücher, die von Confession abstrahiren und allgemeine Bildung bieten.
Munzinger zeigte so wenig Voreingenommenheit für diese oder jene religiöse
Propaganda, daß sogar die großen Fortschritte des Islam, der in wenig
Jahren ganze Stämme für sich gewann, und den er unumwunden für die
Religion erklärte, welche dem Charakter der Afrikaner am meisten zusage,
ihm keine rechtlichen Besorgnisse einflößten ... M. sollte seinen hohen Plan
nicht erfüllt sehen. Als er sich anschickte seinen Leuten Sicherheit gegen
räuberische Angriffe zu verschaffen und auch das eigentliche Abyssinien dem Ver¬
kehr und damit der Cultur zu öffnen, fiel er als Opfer seines allzugroßen
Vertrauens im Lande der wilden Gattaneger, mit ihm sein treues Weib.
Nicht ohne trübe Ahnung hatte er jenes Gebiet betreten, aber ein wahrer
Missionär, wie er war, durfte Angesichts der hohen Ziele jenen düstern Bildern
keinen Einzug ins Herz verstatten. Er starb am Is. Nov. 1875.

Was nun schließlich über „Land und Leute" bei uns zu sagen ist, läßt sich
füglich mit dem Satze abthun: In der Politik Meeresstille (denn die Banknoten¬
bewegung, d. h. das gegen das Banknotengesetz ergriffene Referendum, wo¬
durch jenes wahrscheinlich fallen wird, hat mit Politik sehr wenig zu thun),
in der internationalen Verkehrsfra ge dagegen, die auch zugleich eine
gewaltige Staats- und privatöeonomische ist, eine wahrhaft erschütternde
Bewegung durch die so eben zu Tage getretene offiziell eingestandene Cala-
mität im Gotthardunternehmen. Um nicht weniger als 102 Millionen
übersteigen die Kosten den Voranschlag, welchen seiner Zeit die internationale
Conferenz der theilnehmenden Staaten als Grundlage für die Emission der
Obligationen und Aktien annahm. Wie es kam, kommen konnte, daß
diese Basis nach einigen Jahren sich als so total fehlerhaft erwies, ist der¬
malen noch ein Räthsel, welches die Faktoren der Lohnvertheuerung, der steigen¬
den Preise für Material und andere rein ökonomische Einflüsse nicht im entfern¬
testen zu lösen vermögen. Da muß grobe Verrechnung zu Grunde liegen. Und
was nun? Vom Fallenlassen des Riesenwerkes kann schlechterdings keine Rede
ein: da müßte nicht bildlich „der Genius des Jahrhunderts", da müßten wir


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[0402] Männern fehlt, welche, von Reiselust getrieben. Afrika durchwandern, ohne daß für wissenschaftliche oder civilisatorische Zwecke irgend ein Gewinn ab¬ fällt: Er war als Handelsmann ins Land gekommen; als Sprachforscher und Ethnograph hatte er Land und Leute liebgewonnen, als Gouverneur konnte er hoffen, alle seine Pläne zu verwirklichen — die Wissenschaft, die Civili¬ sation , der Handel sollte hier frische Blüthen treiben auf fruchtbarem Boden. Wie M. seine Culturausgabe auffaßte, dafür ist ein günstiges Zeichen das Geschimpfe der sogenannten Missionäre: er machte es eben glücklicherweise nicht wie sie. Er wollte vor allem zuerst, „daß Schulen gestiftet würden". „Man lehre das Volk lesen, man beschenke es mit Buchdruckereien, man übersetze fa߬ liche Bücher, die von Confession abstrahiren und allgemeine Bildung bieten. Munzinger zeigte so wenig Voreingenommenheit für diese oder jene religiöse Propaganda, daß sogar die großen Fortschritte des Islam, der in wenig Jahren ganze Stämme für sich gewann, und den er unumwunden für die Religion erklärte, welche dem Charakter der Afrikaner am meisten zusage, ihm keine rechtlichen Besorgnisse einflößten ... M. sollte seinen hohen Plan nicht erfüllt sehen. Als er sich anschickte seinen Leuten Sicherheit gegen räuberische Angriffe zu verschaffen und auch das eigentliche Abyssinien dem Ver¬ kehr und damit der Cultur zu öffnen, fiel er als Opfer seines allzugroßen Vertrauens im Lande der wilden Gattaneger, mit ihm sein treues Weib. Nicht ohne trübe Ahnung hatte er jenes Gebiet betreten, aber ein wahrer Missionär, wie er war, durfte Angesichts der hohen Ziele jenen düstern Bildern keinen Einzug ins Herz verstatten. Er starb am Is. Nov. 1875. Was nun schließlich über „Land und Leute" bei uns zu sagen ist, läßt sich füglich mit dem Satze abthun: In der Politik Meeresstille (denn die Banknoten¬ bewegung, d. h. das gegen das Banknotengesetz ergriffene Referendum, wo¬ durch jenes wahrscheinlich fallen wird, hat mit Politik sehr wenig zu thun), in der internationalen Verkehrsfra ge dagegen, die auch zugleich eine gewaltige Staats- und privatöeonomische ist, eine wahrhaft erschütternde Bewegung durch die so eben zu Tage getretene offiziell eingestandene Cala- mität im Gotthardunternehmen. Um nicht weniger als 102 Millionen übersteigen die Kosten den Voranschlag, welchen seiner Zeit die internationale Conferenz der theilnehmenden Staaten als Grundlage für die Emission der Obligationen und Aktien annahm. Wie es kam, kommen konnte, daß diese Basis nach einigen Jahren sich als so total fehlerhaft erwies, ist der¬ malen noch ein Räthsel, welches die Faktoren der Lohnvertheuerung, der steigen¬ den Preise für Material und andere rein ökonomische Einflüsse nicht im entfern¬ testen zu lösen vermögen. Da muß grobe Verrechnung zu Grunde liegen. Und was nun? Vom Fallenlassen des Riesenwerkes kann schlechterdings keine Rede ein: da müßte nicht bildlich „der Genius des Jahrhunderts", da müßten wir

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/402>, abgerufen am 26.09.2024.