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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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Wickelung in der geologischen Aufeinanderfolge des organischen Lebens. Hier
haben wir Uebereinstimmung in einem zusammenhängenden Plane. Hier ist
gerade jene Art von Aehnlichkeit in den Theilen, aber nur so viel und nicht
mehr, als sie stets intellectuelles, aus derselben Quelle entsprungnes Wirken
charakterisirt. Wenn wir dieses große Epos des organischen Lebens in seiner
Gesammtheit, so leicht und so mannichfaltig, ja sogar spielend in der Vielheit
der Erscheinungen durchgeführt betrachten, so will es uns bedünken, als wür¬
den wir an die große Composition eines Dichters oder Tonkünstlers erinnert,
in welcher der Grundton der Fundamentalharmonie durch alle Schattirungen
des Rhythmus oder des Liedes hindurchklingt. So groß ist diese Freiheit, so
unähnlich der physischen Evolution, daß wir endlose Widersprüche, endlose
Störungen, erstaunliche Anachronismen in jener ununterbrochen sein wollenden
Reihe fortschreitender Ereignisse finden, welche von den Vertretern des Trans¬
mutationsdogmas vertheidigt wird. Thiere, welche nach der Einfachheit und
UnVollkommenheit ihrer Organisation die Ahnen sein müßten, kennt man als
einer späteren Schöpfungsepoche angehörig, die vollkommen organisirten Typen
erscheinen häusig zuerst und die einfachen später." "Jene Behauptung ver¬
trägt nun einmal keine ernste Prüfung. Sie ist eben eines von jenen einge¬
bildeten Resultaten, welche aus der Ermittelung oder Darstellung eines großen
Gesetzes folgen, den Geist fesseln und ihn verführen, das für Wahrheit zu
nehmen, was er so gern für wahr halten möchte."

So weit Agassiz in seinen allgemeinen Aeußerungen. Auf die Details,
die zum Theil völlig neu sind und sehr vieles Interessante erhalten, können
wir nicht eingehen. Jene allgemeine Gedanken haben viel für sich, scheinen
uns aber doch noch sorgfältiger Prüfung durch Fachleute zu bedürfen, bevor
wir ein Urtheil über sie fällen können, wo es dann Zeit sein wird, sich für
oder gegen Darwin und seine Schule zu erklären.




Ms der Schweiz.

Aus unserer kleinen Republik ist in letzter Zeit eigentlich wenig Tröst¬
liches zu vermelden. Der ewige Streit zwischen Religion und Staat hat zwar
für den Augenblick aufgehört zu branden und zu toben, aber er wird wieder¬
kehren, hier wie anderswo, und ist auch die Oberfläche scheinbar ruhiger ge¬
worden, so gährt und grollt es für den aufmerksamen Beobachter in der Tiefe


Wickelung in der geologischen Aufeinanderfolge des organischen Lebens. Hier
haben wir Uebereinstimmung in einem zusammenhängenden Plane. Hier ist
gerade jene Art von Aehnlichkeit in den Theilen, aber nur so viel und nicht
mehr, als sie stets intellectuelles, aus derselben Quelle entsprungnes Wirken
charakterisirt. Wenn wir dieses große Epos des organischen Lebens in seiner
Gesammtheit, so leicht und so mannichfaltig, ja sogar spielend in der Vielheit
der Erscheinungen durchgeführt betrachten, so will es uns bedünken, als wür¬
den wir an die große Composition eines Dichters oder Tonkünstlers erinnert,
in welcher der Grundton der Fundamentalharmonie durch alle Schattirungen
des Rhythmus oder des Liedes hindurchklingt. So groß ist diese Freiheit, so
unähnlich der physischen Evolution, daß wir endlose Widersprüche, endlose
Störungen, erstaunliche Anachronismen in jener ununterbrochen sein wollenden
Reihe fortschreitender Ereignisse finden, welche von den Vertretern des Trans¬
mutationsdogmas vertheidigt wird. Thiere, welche nach der Einfachheit und
UnVollkommenheit ihrer Organisation die Ahnen sein müßten, kennt man als
einer späteren Schöpfungsepoche angehörig, die vollkommen organisirten Typen
erscheinen häusig zuerst und die einfachen später." „Jene Behauptung ver¬
trägt nun einmal keine ernste Prüfung. Sie ist eben eines von jenen einge¬
bildeten Resultaten, welche aus der Ermittelung oder Darstellung eines großen
Gesetzes folgen, den Geist fesseln und ihn verführen, das für Wahrheit zu
nehmen, was er so gern für wahr halten möchte."

So weit Agassiz in seinen allgemeinen Aeußerungen. Auf die Details,
die zum Theil völlig neu sind und sehr vieles Interessante erhalten, können
wir nicht eingehen. Jene allgemeine Gedanken haben viel für sich, scheinen
uns aber doch noch sorgfältiger Prüfung durch Fachleute zu bedürfen, bevor
wir ein Urtheil über sie fällen können, wo es dann Zeit sein wird, sich für
oder gegen Darwin und seine Schule zu erklären.




Ms der Schweiz.

Aus unserer kleinen Republik ist in letzter Zeit eigentlich wenig Tröst¬
liches zu vermelden. Der ewige Streit zwischen Religion und Staat hat zwar
für den Augenblick aufgehört zu branden und zu toben, aber er wird wieder¬
kehren, hier wie anderswo, und ist auch die Oberfläche scheinbar ruhiger ge¬
worden, so gährt und grollt es für den aufmerksamen Beobachter in der Tiefe


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[0386] Wickelung in der geologischen Aufeinanderfolge des organischen Lebens. Hier haben wir Uebereinstimmung in einem zusammenhängenden Plane. Hier ist gerade jene Art von Aehnlichkeit in den Theilen, aber nur so viel und nicht mehr, als sie stets intellectuelles, aus derselben Quelle entsprungnes Wirken charakterisirt. Wenn wir dieses große Epos des organischen Lebens in seiner Gesammtheit, so leicht und so mannichfaltig, ja sogar spielend in der Vielheit der Erscheinungen durchgeführt betrachten, so will es uns bedünken, als wür¬ den wir an die große Composition eines Dichters oder Tonkünstlers erinnert, in welcher der Grundton der Fundamentalharmonie durch alle Schattirungen des Rhythmus oder des Liedes hindurchklingt. So groß ist diese Freiheit, so unähnlich der physischen Evolution, daß wir endlose Widersprüche, endlose Störungen, erstaunliche Anachronismen in jener ununterbrochen sein wollenden Reihe fortschreitender Ereignisse finden, welche von den Vertretern des Trans¬ mutationsdogmas vertheidigt wird. Thiere, welche nach der Einfachheit und UnVollkommenheit ihrer Organisation die Ahnen sein müßten, kennt man als einer späteren Schöpfungsepoche angehörig, die vollkommen organisirten Typen erscheinen häusig zuerst und die einfachen später." „Jene Behauptung ver¬ trägt nun einmal keine ernste Prüfung. Sie ist eben eines von jenen einge¬ bildeten Resultaten, welche aus der Ermittelung oder Darstellung eines großen Gesetzes folgen, den Geist fesseln und ihn verführen, das für Wahrheit zu nehmen, was er so gern für wahr halten möchte." So weit Agassiz in seinen allgemeinen Aeußerungen. Auf die Details, die zum Theil völlig neu sind und sehr vieles Interessante erhalten, können wir nicht eingehen. Jene allgemeine Gedanken haben viel für sich, scheinen uns aber doch noch sorgfältiger Prüfung durch Fachleute zu bedürfen, bevor wir ein Urtheil über sie fällen können, wo es dann Zeit sein wird, sich für oder gegen Darwin und seine Schule zu erklären. Ms der Schweiz. Aus unserer kleinen Republik ist in letzter Zeit eigentlich wenig Tröst¬ liches zu vermelden. Der ewige Streit zwischen Religion und Staat hat zwar für den Augenblick aufgehört zu branden und zu toben, aber er wird wieder¬ kehren, hier wie anderswo, und ist auch die Oberfläche scheinbar ruhiger ge¬ worden, so gährt und grollt es für den aufmerksamen Beobachter in der Tiefe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/386>, abgerufen am 22.07.2024.