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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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StaatsKirche, Freikirche, Landeskirche.
Bon Prof. Dr. H. Ja eoby. I.

Die Entwicklung wissenschaftlicher Theorien, welche nicht die abstrakten
Beziehungen der Ideen, sondern der konkreten Verhältnisse objektiver Erschei¬
nungen zum Gegenstande haben, sind mehr oder minder abhängig von wechseln¬
den praktischen Bedürfnissen und ein Ausdruck von Stimmungen, welche die
eigenthümlichen Zustände der jedesmaligen Gegenwart hervorgebracht haben.
Auch die Theorien über die Stellung, welche Staat und Kirche im Verhält¬
niß zu einander eignen, sind Kinder der Zeit und verrathen deutlich ihren
Ursprung aus dem Vorwalten gewisser Parteiströmungen. Sie sind Versuche,
eine geschichtlich gewordne oder im Werden begriffne Situation durch allge¬
meinere prinzipielle Erörterungen zu legitimiren und ihnen so eine ideale Basis
W geben.

Als die Gewässer der revolutionären Bewegungen, welche 184-8 und
1849 über die Ufer gestiegen waren und die Dämme durchbrochen hatten,
wieder zurückflutheten, vergegenwärtigte man sich, welche Faktoren zur Be¬
ruhigung der Völker entscheidend gewirkt hatten, erkannre als solche außer der
um'litairischen Macht die christliche Kirche der beiden privilegirten Confessionen
Und suchte dieselben daher in den engsten Zusammenhang mit dem staatlichen
Organismus zu bringen. Die Idee des christlichen Staats, welche bis dahin
uur in engeren Kreisen gepflegt war, kam jetzt zu allgemeinerer Geltung.
Die Vertreter des Gedankens sahen in der Trennung von Staat und
Kirche, im Begriff der Freikirche eine Ausgeburt der Revolution. "Die Forde¬
rung der Abschaffung der Staatsreligion, sagt Stahls, der beredte Anwalt
des "christlichen Staates", ist der liberalen Partei allein eigen. Die Parteien
der Legitimität halten, wie sich von selbst versteht, am Christenthum als
Staatsreligion und zwar als von Gott gebotner Staatsreligion.--Nur
die liberale Partei will Freigebung der Kulte an die Individuen. Es ist das
dieselbe Stellung, wie sie auf dem nationalökonomischen Gebiete die Erwerbs¬
thätigkeit völlig den Individuen frei giebt und sie weder durch Institutionen,



*) Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche. 2. Aufl, Berlin 1868. S, 95--9".
Grenzboten IV. 1875. 16
StaatsKirche, Freikirche, Landeskirche.
Bon Prof. Dr. H. Ja eoby. I.

Die Entwicklung wissenschaftlicher Theorien, welche nicht die abstrakten
Beziehungen der Ideen, sondern der konkreten Verhältnisse objektiver Erschei¬
nungen zum Gegenstande haben, sind mehr oder minder abhängig von wechseln¬
den praktischen Bedürfnissen und ein Ausdruck von Stimmungen, welche die
eigenthümlichen Zustände der jedesmaligen Gegenwart hervorgebracht haben.
Auch die Theorien über die Stellung, welche Staat und Kirche im Verhält¬
niß zu einander eignen, sind Kinder der Zeit und verrathen deutlich ihren
Ursprung aus dem Vorwalten gewisser Parteiströmungen. Sie sind Versuche,
eine geschichtlich gewordne oder im Werden begriffne Situation durch allge¬
meinere prinzipielle Erörterungen zu legitimiren und ihnen so eine ideale Basis
W geben.

Als die Gewässer der revolutionären Bewegungen, welche 184-8 und
1849 über die Ufer gestiegen waren und die Dämme durchbrochen hatten,
wieder zurückflutheten, vergegenwärtigte man sich, welche Faktoren zur Be¬
ruhigung der Völker entscheidend gewirkt hatten, erkannre als solche außer der
um'litairischen Macht die christliche Kirche der beiden privilegirten Confessionen
Und suchte dieselben daher in den engsten Zusammenhang mit dem staatlichen
Organismus zu bringen. Die Idee des christlichen Staats, welche bis dahin
uur in engeren Kreisen gepflegt war, kam jetzt zu allgemeinerer Geltung.
Die Vertreter des Gedankens sahen in der Trennung von Staat und
Kirche, im Begriff der Freikirche eine Ausgeburt der Revolution. „Die Forde¬
rung der Abschaffung der Staatsreligion, sagt Stahls, der beredte Anwalt
des „christlichen Staates", ist der liberalen Partei allein eigen. Die Parteien
der Legitimität halten, wie sich von selbst versteht, am Christenthum als
Staatsreligion und zwar als von Gott gebotner Staatsreligion.--Nur
die liberale Partei will Freigebung der Kulte an die Individuen. Es ist das
dieselbe Stellung, wie sie auf dem nationalökonomischen Gebiete die Erwerbs¬
thätigkeit völlig den Individuen frei giebt und sie weder durch Institutionen,



*) Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche. 2. Aufl, Berlin 1868. S, 95—9«.
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[0125] StaatsKirche, Freikirche, Landeskirche. Bon Prof. Dr. H. Ja eoby. I. Die Entwicklung wissenschaftlicher Theorien, welche nicht die abstrakten Beziehungen der Ideen, sondern der konkreten Verhältnisse objektiver Erschei¬ nungen zum Gegenstande haben, sind mehr oder minder abhängig von wechseln¬ den praktischen Bedürfnissen und ein Ausdruck von Stimmungen, welche die eigenthümlichen Zustände der jedesmaligen Gegenwart hervorgebracht haben. Auch die Theorien über die Stellung, welche Staat und Kirche im Verhält¬ niß zu einander eignen, sind Kinder der Zeit und verrathen deutlich ihren Ursprung aus dem Vorwalten gewisser Parteiströmungen. Sie sind Versuche, eine geschichtlich gewordne oder im Werden begriffne Situation durch allge¬ meinere prinzipielle Erörterungen zu legitimiren und ihnen so eine ideale Basis W geben. Als die Gewässer der revolutionären Bewegungen, welche 184-8 und 1849 über die Ufer gestiegen waren und die Dämme durchbrochen hatten, wieder zurückflutheten, vergegenwärtigte man sich, welche Faktoren zur Be¬ ruhigung der Völker entscheidend gewirkt hatten, erkannre als solche außer der um'litairischen Macht die christliche Kirche der beiden privilegirten Confessionen Und suchte dieselben daher in den engsten Zusammenhang mit dem staatlichen Organismus zu bringen. Die Idee des christlichen Staats, welche bis dahin uur in engeren Kreisen gepflegt war, kam jetzt zu allgemeinerer Geltung. Die Vertreter des Gedankens sahen in der Trennung von Staat und Kirche, im Begriff der Freikirche eine Ausgeburt der Revolution. „Die Forde¬ rung der Abschaffung der Staatsreligion, sagt Stahls, der beredte Anwalt des „christlichen Staates", ist der liberalen Partei allein eigen. Die Parteien der Legitimität halten, wie sich von selbst versteht, am Christenthum als Staatsreligion und zwar als von Gott gebotner Staatsreligion.--Nur die liberale Partei will Freigebung der Kulte an die Individuen. Es ist das dieselbe Stellung, wie sie auf dem nationalökonomischen Gebiete die Erwerbs¬ thätigkeit völlig den Individuen frei giebt und sie weder durch Institutionen, *) Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche. 2. Aufl, Berlin 1868. S, 95—9«. Grenzboten IV. 1875. 16

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/125>, abgerufen am 22.07.2024.