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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

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oder sonstigen gottseliger Zwecken zu Gute kommen sollte. Meine Gewährs¬
männin, damals ein Mädchen von 13 --14 Jahren, die Tochter eines armen
Schuhmachers, die in ihrem elterlichen Hause nie anders als Elsässer-Deutsch
sprechen gelernt hatte, verfiel nun so oft in die greuliche Sünde des Deutsch¬
sprechens, daß die fromme Schwester sich vor Aerger und Bosheit kaum mehr
kannte, zumal die Strafsous von dem dürftigen Pechdrathkünstler nur mit
genauer Noth beigetrieben werden konnten. Eines Tages diktirte sie denn
dem Mädchen im Berein mit einem andern, das in derselben Lage war, eine
Strafe von 10 Sous für jedes Wort, im Falle der Zahlungsunfähigkeit aber
Einsperrung ins Loch. Weinend theilt das Kind diesen Ukas der Schul¬
tyrannei dem Vater mit. Der aber spuckt in die Hände und ruft voll Aerger:
,,nom ä" visu! 10 Su uf emol! Tel zahl ich net! Mag sie dich ein¬
sperren!" Und richtig, das Kind wird mit ihrer Leidensgefährtin, wegen des
Capitalverbrechens des Deutschsprechens auf 8 Stunden ewzesperrt und zwar,
da die Schule, wie gewöhnlich, mit der Mairie in einem Gebäude sich befand,
auf dem Söller der Mairie. Als die Kinder Hunger bekommen, bemerken sie
plötzlich das Seil eines Glöckchens -- es war das Brandglöckchen der Ge¬
meinde -- und nun fangen sie an, aus Leibeskräften zu läuten. Das ganze
Dorf läuft zusammen, Bürgermeister und Adjunkt an der Spitze; überall der
Ruf: "Fürio! Fürio!" und die Frage: "Wo brennt's? Wo brennt's?" die
überall ohne Auskunft bleibt. Endlich eilt man auf den Söller der Mairie
und findet dort die beiden unglücklichen Kinder. Natürlich werden sie sofort
entlassen. Am andern Morgen aber werden sie von der frommen und sanft-
müthigen Nonne, um einen ähnlichen Spektakel zu verhüten, vor dem Schul¬
lokal mit Seilen an einen Treppenpfosten gebunden, weil sie -- wieder
Deutsch gesprochen hatten. War das nicht barbarisch? Ist das nicht eine
herrliche Probe französischer Duldsamkeit in Sachen der Sprachenfrage?
Wie es heutzutage die deutschen Schulmeister im Elsaß machen, darüber ein
anderes Mal.




Literatur.

Kulturpflanzen und Hausthiere in ihrem Uebergang aus Asien nach Griechenland
und Italien sowie in das übrige Europa.
Historisch-linguistische Skizzen von Victor Hehn. 2. Aufl. Verl. 1874.

Es ist gewiß eine seltene Erscheinung, wenn in jetziger Zeit, wo der
Mangel an Absatz mit wenigen Ausnahmen zu den stehenden Klagen der


oder sonstigen gottseliger Zwecken zu Gute kommen sollte. Meine Gewährs¬
männin, damals ein Mädchen von 13 —14 Jahren, die Tochter eines armen
Schuhmachers, die in ihrem elterlichen Hause nie anders als Elsässer-Deutsch
sprechen gelernt hatte, verfiel nun so oft in die greuliche Sünde des Deutsch¬
sprechens, daß die fromme Schwester sich vor Aerger und Bosheit kaum mehr
kannte, zumal die Strafsous von dem dürftigen Pechdrathkünstler nur mit
genauer Noth beigetrieben werden konnten. Eines Tages diktirte sie denn
dem Mädchen im Berein mit einem andern, das in derselben Lage war, eine
Strafe von 10 Sous für jedes Wort, im Falle der Zahlungsunfähigkeit aber
Einsperrung ins Loch. Weinend theilt das Kind diesen Ukas der Schul¬
tyrannei dem Vater mit. Der aber spuckt in die Hände und ruft voll Aerger:
,,nom ä« visu! 10 Su uf emol! Tel zahl ich net! Mag sie dich ein¬
sperren!" Und richtig, das Kind wird mit ihrer Leidensgefährtin, wegen des
Capitalverbrechens des Deutschsprechens auf 8 Stunden ewzesperrt und zwar,
da die Schule, wie gewöhnlich, mit der Mairie in einem Gebäude sich befand,
auf dem Söller der Mairie. Als die Kinder Hunger bekommen, bemerken sie
plötzlich das Seil eines Glöckchens — es war das Brandglöckchen der Ge¬
meinde — und nun fangen sie an, aus Leibeskräften zu läuten. Das ganze
Dorf läuft zusammen, Bürgermeister und Adjunkt an der Spitze; überall der
Ruf: „Fürio! Fürio!" und die Frage: „Wo brennt's? Wo brennt's?" die
überall ohne Auskunft bleibt. Endlich eilt man auf den Söller der Mairie
und findet dort die beiden unglücklichen Kinder. Natürlich werden sie sofort
entlassen. Am andern Morgen aber werden sie von der frommen und sanft-
müthigen Nonne, um einen ähnlichen Spektakel zu verhüten, vor dem Schul¬
lokal mit Seilen an einen Treppenpfosten gebunden, weil sie — wieder
Deutsch gesprochen hatten. War das nicht barbarisch? Ist das nicht eine
herrliche Probe französischer Duldsamkeit in Sachen der Sprachenfrage?
Wie es heutzutage die deutschen Schulmeister im Elsaß machen, darüber ein
anderes Mal.




Literatur.

Kulturpflanzen und Hausthiere in ihrem Uebergang aus Asien nach Griechenland
und Italien sowie in das übrige Europa.
Historisch-linguistische Skizzen von Victor Hehn. 2. Aufl. Verl. 1874.

Es ist gewiß eine seltene Erscheinung, wenn in jetziger Zeit, wo der
Mangel an Absatz mit wenigen Ausnahmen zu den stehenden Klagen der


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[0116] oder sonstigen gottseliger Zwecken zu Gute kommen sollte. Meine Gewährs¬ männin, damals ein Mädchen von 13 —14 Jahren, die Tochter eines armen Schuhmachers, die in ihrem elterlichen Hause nie anders als Elsässer-Deutsch sprechen gelernt hatte, verfiel nun so oft in die greuliche Sünde des Deutsch¬ sprechens, daß die fromme Schwester sich vor Aerger und Bosheit kaum mehr kannte, zumal die Strafsous von dem dürftigen Pechdrathkünstler nur mit genauer Noth beigetrieben werden konnten. Eines Tages diktirte sie denn dem Mädchen im Berein mit einem andern, das in derselben Lage war, eine Strafe von 10 Sous für jedes Wort, im Falle der Zahlungsunfähigkeit aber Einsperrung ins Loch. Weinend theilt das Kind diesen Ukas der Schul¬ tyrannei dem Vater mit. Der aber spuckt in die Hände und ruft voll Aerger: ,,nom ä« visu! 10 Su uf emol! Tel zahl ich net! Mag sie dich ein¬ sperren!" Und richtig, das Kind wird mit ihrer Leidensgefährtin, wegen des Capitalverbrechens des Deutschsprechens auf 8 Stunden ewzesperrt und zwar, da die Schule, wie gewöhnlich, mit der Mairie in einem Gebäude sich befand, auf dem Söller der Mairie. Als die Kinder Hunger bekommen, bemerken sie plötzlich das Seil eines Glöckchens — es war das Brandglöckchen der Ge¬ meinde — und nun fangen sie an, aus Leibeskräften zu läuten. Das ganze Dorf läuft zusammen, Bürgermeister und Adjunkt an der Spitze; überall der Ruf: „Fürio! Fürio!" und die Frage: „Wo brennt's? Wo brennt's?" die überall ohne Auskunft bleibt. Endlich eilt man auf den Söller der Mairie und findet dort die beiden unglücklichen Kinder. Natürlich werden sie sofort entlassen. Am andern Morgen aber werden sie von der frommen und sanft- müthigen Nonne, um einen ähnlichen Spektakel zu verhüten, vor dem Schul¬ lokal mit Seilen an einen Treppenpfosten gebunden, weil sie — wieder Deutsch gesprochen hatten. War das nicht barbarisch? Ist das nicht eine herrliche Probe französischer Duldsamkeit in Sachen der Sprachenfrage? Wie es heutzutage die deutschen Schulmeister im Elsaß machen, darüber ein anderes Mal. Literatur. Kulturpflanzen und Hausthiere in ihrem Uebergang aus Asien nach Griechenland und Italien sowie in das übrige Europa. Historisch-linguistische Skizzen von Victor Hehn. 2. Aufl. Verl. 1874. Es ist gewiß eine seltene Erscheinung, wenn in jetziger Zeit, wo der Mangel an Absatz mit wenigen Ausnahmen zu den stehenden Klagen der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/116>, abgerufen am 22.07.2024.