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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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HoedeKe's Hoelheöiograpljie.

Nach einer neuen Goethebiographie greift wohl heute jeder Gebildete in
Deutschland mit freudiger Spannung, Lastet doch auf uns das drückende
Gefühl, daß wir uns das Leben unseres größten Dichters von einem Ausländer
erzählen lassen müssen. Müssen? Wirklich müssen? Vielleicht müssen wir
es nicht, aber wir thun es doch. Und man sage über Lewes' Buch, was
man will, man tröste sich mit dem leidigen Troste, daß Lewes seine Aufgabe
unterschätzt habe, daß sein Buch nicht dem Ideale einer Goethebiographie
entspreche, welches Uns Deutschen vorschwebe, daß wir nicht eher uns zufrieden
geben werden, als bis wir über Goethe ein Werk besitzen, wie es' Otto Jahr
über Mozart, Carl Justi über Winckelmann, Philipp Spitta über Sebastian
Bach geschrieben hat, daß wir es eben deshalb und nur deshalb noch zu
keiner würdigen Goethebiographie gebracht haben, weil wir die Großartigkeit
der Aufgabe richtiger schätzen als der Fremde, daß überhaupt die Zeit zur
Ausführung dieser Aufgabe noch gär nicht gekommen sei, so lange das Goethe¬
archiv in Weimar noch immer für den Forscher verriegelt und versiegelt sei,
und was dergleichen Trostgründe mehr sind -- so wird man doch nicht hin-
wegläugnen können, daß Lewes, von Liebe und Begeisterung für den Dichter
erfüllt, ein fleißiges, geschicktes, geschmackvolles und lesbares Buch geschrieben
hat, ein Buch, daß unsre gesammte deutsche Goetheliteratur bei uns selbst an
Popularität übertrifft.

Von Otto Jahr erwartete man lange Zeit, daß er einst Lewes aus dem
Felde schlagen werde. Ja, was erwartete man von Otto Jahr nicht alles!
Die Alterthumswissenschaft hoffte von ihm noch ein großes archäologisches
Fundamentalwerk, die Musikgeschichte rechnete auf ein Leben Beethoven's. Er
ist dahingegangen, und nichts von dem hat sich erfüllt. Und auch die Frage,
wer dem deutschen Volke das Leben Goethe's schreiben werde, ist eine offene
geblieben.

Auch Goedeke's Buch*), auf welches wir jetzt die Aufmerksamkeit lenken
möchten, ist weit entfernt davon, eine Lösung dieser Frage zu sein. Aber
es ist ein Beitrag zu dieser Lösung, ein Beitrag von durchaus eigenthümlicher
Art und Bedeutung, und ein Buch, mit welchem intimste Bekanntschaft zu
machen wahrhaftig der Mühe lohnt.

Goedeke selber sagt in seinem kurzen Vorworte, seine Darstellung von
Goethe's Leben und Schriften bestehe "wesentlich aus den Einleitungen, die
er vor Jahren zu einer Gesammtausgabe und den einzelnen Werken des
Dichters in der Absicht verfaßt habe, um sie demnächst als selbständiges Buch



') Goethe's Lebe" und Schriften. Von Karl Gocdeke. Cotta, 1L74,
HoedeKe's Hoelheöiograpljie.

Nach einer neuen Goethebiographie greift wohl heute jeder Gebildete in
Deutschland mit freudiger Spannung, Lastet doch auf uns das drückende
Gefühl, daß wir uns das Leben unseres größten Dichters von einem Ausländer
erzählen lassen müssen. Müssen? Wirklich müssen? Vielleicht müssen wir
es nicht, aber wir thun es doch. Und man sage über Lewes' Buch, was
man will, man tröste sich mit dem leidigen Troste, daß Lewes seine Aufgabe
unterschätzt habe, daß sein Buch nicht dem Ideale einer Goethebiographie
entspreche, welches Uns Deutschen vorschwebe, daß wir nicht eher uns zufrieden
geben werden, als bis wir über Goethe ein Werk besitzen, wie es' Otto Jahr
über Mozart, Carl Justi über Winckelmann, Philipp Spitta über Sebastian
Bach geschrieben hat, daß wir es eben deshalb und nur deshalb noch zu
keiner würdigen Goethebiographie gebracht haben, weil wir die Großartigkeit
der Aufgabe richtiger schätzen als der Fremde, daß überhaupt die Zeit zur
Ausführung dieser Aufgabe noch gär nicht gekommen sei, so lange das Goethe¬
archiv in Weimar noch immer für den Forscher verriegelt und versiegelt sei,
und was dergleichen Trostgründe mehr sind — so wird man doch nicht hin-
wegläugnen können, daß Lewes, von Liebe und Begeisterung für den Dichter
erfüllt, ein fleißiges, geschicktes, geschmackvolles und lesbares Buch geschrieben
hat, ein Buch, daß unsre gesammte deutsche Goetheliteratur bei uns selbst an
Popularität übertrifft.

Von Otto Jahr erwartete man lange Zeit, daß er einst Lewes aus dem
Felde schlagen werde. Ja, was erwartete man von Otto Jahr nicht alles!
Die Alterthumswissenschaft hoffte von ihm noch ein großes archäologisches
Fundamentalwerk, die Musikgeschichte rechnete auf ein Leben Beethoven's. Er
ist dahingegangen, und nichts von dem hat sich erfüllt. Und auch die Frage,
wer dem deutschen Volke das Leben Goethe's schreiben werde, ist eine offene
geblieben.

Auch Goedeke's Buch*), auf welches wir jetzt die Aufmerksamkeit lenken
möchten, ist weit entfernt davon, eine Lösung dieser Frage zu sein. Aber
es ist ein Beitrag zu dieser Lösung, ein Beitrag von durchaus eigenthümlicher
Art und Bedeutung, und ein Buch, mit welchem intimste Bekanntschaft zu
machen wahrhaftig der Mühe lohnt.

Goedeke selber sagt in seinem kurzen Vorworte, seine Darstellung von
Goethe's Leben und Schriften bestehe „wesentlich aus den Einleitungen, die
er vor Jahren zu einer Gesammtausgabe und den einzelnen Werken des
Dichters in der Absicht verfaßt habe, um sie demnächst als selbständiges Buch



') Goethe's Lebe» und Schriften. Von Karl Gocdeke. Cotta, 1L74,
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/384>, abgerufen am 05.02.2025.