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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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Ueue philosophische Literatur*).

Die Zeit ist vorüber, in welcher der denkende Geist sich darin gefiel,
Alles aus Einem Grundbegriff herauszuspinnen und das ganze Universum
im Netz derartiger Deductionen einzufangen; gerade in der Philosophie
hat man unterscheiden gelernt zwischen denknothwendigen Gesetzen und Be¬
dingungen des Seins, die wir aus reiner Vernunft folgern können, und
zwischen der thatsächlichen Erfüllung derselben, die nur durch Erfahrung zu
erkennen ist. Newton's Gravitationsgesetz ergiebt sich aus dem Wesen der Kraft
und des Raumes und herrscht darum überall in der Natur, aber wie groß
unsre Sonne ist,'wie viele Planeten sie umkreisen, das muß die Beobachtung
der Wirklichkeit ausmachen. Aus dem Begriff der Poesie als der Kunst des
Geistes können wir das Epos, die Lyrik, das Drama als nothwendige Formen
ableiten, aber die Ilias, Ueber allen Gipfeln ist Ruh, den Hamlet müssen
wir an der Hand der Geschichte kennen lernen. Induction und Deduction
vereint bilden wie Ein- und Ausathmen das Leben der Wissenschaft. In
diesem Zusammenwirken von Beobachtungen und Bernunftschlussen haben wir
einen Schatz an Erkenntnissen gewonnen, die uns gewiß sind, und alle Mei¬
nungen, Behauptungen, Dogmen, die ihnen widerstreiten, werden sich ferner
nicht halten. Aber der Schatz ist klein und die Betrachtung führt uns über
seine Grenzen hinaus; sie will den Weltzusammenhang verstehen, dessen ein¬
zelne Glieder von besondern Wissenschaften erforscht werden, sie fragt nach dem
Grund und Zweck des Daseins, und sucht nach den bekannten Größen das
Unbekannte zu bestimmen; sie fragt: wie muß das Princip des Seins
beschaffen sein, wenn diese Welt der Ordnung und des Freiheitsbewußtseins,
des Guten und des Bösen, Natur und Geist aus ihm erklärt werden soll?
In diesem Sinne sind nicht blos auf dem Felde der Geschichte der Philosophie
und der Philosophie der Geschichte, auch auf dem der Ethik und Aesthetik,
der Logik und Psychologie tüchtige Kräfte fortwährend thätig; sie arbeiteten
weiter aus Pflicht und Wissensdrang, um des Wahrheitgewissens willen,



H. Ulrici: Gott und der Mensch. Zweite vermehrte Auslage. Leipzig bei I. O. Weigel. ")
E. v. Hartmann: Wahrheit und Irrthum im Darwinismus. Eine Darstellung der
organischen Entwicklungstheorie. Berlin, Karl Duncker's Verlag-
Grcnzvoten I. 1875. 66
Ueue philosophische Literatur*).

Die Zeit ist vorüber, in welcher der denkende Geist sich darin gefiel,
Alles aus Einem Grundbegriff herauszuspinnen und das ganze Universum
im Netz derartiger Deductionen einzufangen; gerade in der Philosophie
hat man unterscheiden gelernt zwischen denknothwendigen Gesetzen und Be¬
dingungen des Seins, die wir aus reiner Vernunft folgern können, und
zwischen der thatsächlichen Erfüllung derselben, die nur durch Erfahrung zu
erkennen ist. Newton's Gravitationsgesetz ergiebt sich aus dem Wesen der Kraft
und des Raumes und herrscht darum überall in der Natur, aber wie groß
unsre Sonne ist,'wie viele Planeten sie umkreisen, das muß die Beobachtung
der Wirklichkeit ausmachen. Aus dem Begriff der Poesie als der Kunst des
Geistes können wir das Epos, die Lyrik, das Drama als nothwendige Formen
ableiten, aber die Ilias, Ueber allen Gipfeln ist Ruh, den Hamlet müssen
wir an der Hand der Geschichte kennen lernen. Induction und Deduction
vereint bilden wie Ein- und Ausathmen das Leben der Wissenschaft. In
diesem Zusammenwirken von Beobachtungen und Bernunftschlussen haben wir
einen Schatz an Erkenntnissen gewonnen, die uns gewiß sind, und alle Mei¬
nungen, Behauptungen, Dogmen, die ihnen widerstreiten, werden sich ferner
nicht halten. Aber der Schatz ist klein und die Betrachtung führt uns über
seine Grenzen hinaus; sie will den Weltzusammenhang verstehen, dessen ein¬
zelne Glieder von besondern Wissenschaften erforscht werden, sie fragt nach dem
Grund und Zweck des Daseins, und sucht nach den bekannten Größen das
Unbekannte zu bestimmen; sie fragt: wie muß das Princip des Seins
beschaffen sein, wenn diese Welt der Ordnung und des Freiheitsbewußtseins,
des Guten und des Bösen, Natur und Geist aus ihm erklärt werden soll?
In diesem Sinne sind nicht blos auf dem Felde der Geschichte der Philosophie
und der Philosophie der Geschichte, auch auf dem der Ethik und Aesthetik,
der Logik und Psychologie tüchtige Kräfte fortwährend thätig; sie arbeiteten
weiter aus Pflicht und Wissensdrang, um des Wahrheitgewissens willen,



H. Ulrici: Gott und der Mensch. Zweite vermehrte Auslage. Leipzig bei I. O. Weigel. ")
E. v. Hartmann: Wahrheit und Irrthum im Darwinismus. Eine Darstellung der
organischen Entwicklungstheorie. Berlin, Karl Duncker's Verlag-
Grcnzvoten I. 1875. 66
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[0449] Ueue philosophische Literatur*). Die Zeit ist vorüber, in welcher der denkende Geist sich darin gefiel, Alles aus Einem Grundbegriff herauszuspinnen und das ganze Universum im Netz derartiger Deductionen einzufangen; gerade in der Philosophie hat man unterscheiden gelernt zwischen denknothwendigen Gesetzen und Be¬ dingungen des Seins, die wir aus reiner Vernunft folgern können, und zwischen der thatsächlichen Erfüllung derselben, die nur durch Erfahrung zu erkennen ist. Newton's Gravitationsgesetz ergiebt sich aus dem Wesen der Kraft und des Raumes und herrscht darum überall in der Natur, aber wie groß unsre Sonne ist,'wie viele Planeten sie umkreisen, das muß die Beobachtung der Wirklichkeit ausmachen. Aus dem Begriff der Poesie als der Kunst des Geistes können wir das Epos, die Lyrik, das Drama als nothwendige Formen ableiten, aber die Ilias, Ueber allen Gipfeln ist Ruh, den Hamlet müssen wir an der Hand der Geschichte kennen lernen. Induction und Deduction vereint bilden wie Ein- und Ausathmen das Leben der Wissenschaft. In diesem Zusammenwirken von Beobachtungen und Bernunftschlussen haben wir einen Schatz an Erkenntnissen gewonnen, die uns gewiß sind, und alle Mei¬ nungen, Behauptungen, Dogmen, die ihnen widerstreiten, werden sich ferner nicht halten. Aber der Schatz ist klein und die Betrachtung führt uns über seine Grenzen hinaus; sie will den Weltzusammenhang verstehen, dessen ein¬ zelne Glieder von besondern Wissenschaften erforscht werden, sie fragt nach dem Grund und Zweck des Daseins, und sucht nach den bekannten Größen das Unbekannte zu bestimmen; sie fragt: wie muß das Princip des Seins beschaffen sein, wenn diese Welt der Ordnung und des Freiheitsbewußtseins, des Guten und des Bösen, Natur und Geist aus ihm erklärt werden soll? In diesem Sinne sind nicht blos auf dem Felde der Geschichte der Philosophie und der Philosophie der Geschichte, auch auf dem der Ethik und Aesthetik, der Logik und Psychologie tüchtige Kräfte fortwährend thätig; sie arbeiteten weiter aus Pflicht und Wissensdrang, um des Wahrheitgewissens willen, H. Ulrici: Gott und der Mensch. Zweite vermehrte Auslage. Leipzig bei I. O. Weigel. ") E. v. Hartmann: Wahrheit und Irrthum im Darwinismus. Eine Darstellung der organischen Entwicklungstheorie. Berlin, Karl Duncker's Verlag- Grcnzvoten I. 1875. 66

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/449>, abgerufen am 29.06.2024.