Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
ur Geschichte der französischen Jusionsbewegung.
Erster Artikel.

Die Versöhnung der beiden bourbonischen Linien war mehr als der
Schlußact eines Familiendramas, sie war ein Ereigniß von entschieden
politischer Bedeutung, und als ein solches wollten die unmittelbar Betheiligten
es auch angesehen wissen. Das fühlten auch die Republikaner sofort heraus,
wie sehr sie sich auch bemühten, in Zeitungsartikeln einen geringschätzigen
Ton anzuschlagen. Es galt ja eben bei den Republikanern für einen Beweis
von großer Schlauheit, unbequeme Thatsachen als bedeutungslos darzustellen
und allen Gefahren dadurch zu begegnen, daß man vor ihnen die Augen
verschloß und sie ableugnete, indem man den sichtbaren Fortschritten der Geg¬
ner die Behauptung von der unwiderstehlichen Macht der republikanischen
Ideen entgegenstellte. Die absichtliche Selbsttäuschung war bei ihnen zum
System ausgebildet worden. Weil sie sich der Fähigkeit zum Handeln beraubt
fühlten, suchten sie sich und Andere zu überreden, daß ihre Sache zu stark
sei, um ihrer thätigen Unterstützung zu bedürfen, daß sie vermöge der ihr
inwohnenden Kraft über alle Umtriebe der Gegner den glänzendsten Sieg da¬
vontragen werde. Frankreich ist republikanisch gesinnt, folglich muß jeder
Versuch, die Monarchie herzustellen, scheitern; in dieser Beweisführung be¬
gegneten sich "Bien Public" und "Republique Francaise" Thiers und Gam-
betta, nicht beachtend, daß diese Methode für die Republikaner gradezu ver¬
derblich werden mußte, daß sie dieselbe der Eigenschaften beraubte, deren eine
Partei, zumal eine solche, die sich rühmt, das Land hinter sich zu haben,
vor Allem bedarf: des Muthes und der Entschlossenheit. Ein Gambetta, der
besonders schlau zu operiren glaubt, wenn er dem modernen Bajard, dem
loyalsten Soldaten Frankreichs den Hof macht, ist nur noch die widrige Ca-
ricatur eines Radikalen.

Auch diesmal erging man sich in ziemlich wohlfeilen und jedenfalls völlig
wirkungslosen Spott über das Ereigniß des Tages; aber in der gespannten
Aufmerksamkeit, mit der man jeden Schritt der Fusionisten verfolgte, trat
die Furcht vor deren Entwürfen deutlich genug zu Tage. Hatten die bei-


Grmzbotm I. 1S74. 36
ur Geschichte der französischen Jusionsbewegung.
Erster Artikel.

Die Versöhnung der beiden bourbonischen Linien war mehr als der
Schlußact eines Familiendramas, sie war ein Ereigniß von entschieden
politischer Bedeutung, und als ein solches wollten die unmittelbar Betheiligten
es auch angesehen wissen. Das fühlten auch die Republikaner sofort heraus,
wie sehr sie sich auch bemühten, in Zeitungsartikeln einen geringschätzigen
Ton anzuschlagen. Es galt ja eben bei den Republikanern für einen Beweis
von großer Schlauheit, unbequeme Thatsachen als bedeutungslos darzustellen
und allen Gefahren dadurch zu begegnen, daß man vor ihnen die Augen
verschloß und sie ableugnete, indem man den sichtbaren Fortschritten der Geg¬
ner die Behauptung von der unwiderstehlichen Macht der republikanischen
Ideen entgegenstellte. Die absichtliche Selbsttäuschung war bei ihnen zum
System ausgebildet worden. Weil sie sich der Fähigkeit zum Handeln beraubt
fühlten, suchten sie sich und Andere zu überreden, daß ihre Sache zu stark
sei, um ihrer thätigen Unterstützung zu bedürfen, daß sie vermöge der ihr
inwohnenden Kraft über alle Umtriebe der Gegner den glänzendsten Sieg da¬
vontragen werde. Frankreich ist republikanisch gesinnt, folglich muß jeder
Versuch, die Monarchie herzustellen, scheitern; in dieser Beweisführung be¬
gegneten sich „Bien Public" und „Republique Francaise" Thiers und Gam-
betta, nicht beachtend, daß diese Methode für die Republikaner gradezu ver¬
derblich werden mußte, daß sie dieselbe der Eigenschaften beraubte, deren eine
Partei, zumal eine solche, die sich rühmt, das Land hinter sich zu haben,
vor Allem bedarf: des Muthes und der Entschlossenheit. Ein Gambetta, der
besonders schlau zu operiren glaubt, wenn er dem modernen Bajard, dem
loyalsten Soldaten Frankreichs den Hof macht, ist nur noch die widrige Ca-
ricatur eines Radikalen.

Auch diesmal erging man sich in ziemlich wohlfeilen und jedenfalls völlig
wirkungslosen Spott über das Ereigniß des Tages; aber in der gespannten
Aufmerksamkeit, mit der man jeden Schritt der Fusionisten verfolgte, trat
die Furcht vor deren Entwürfen deutlich genug zu Tage. Hatten die bei-


Grmzbotm I. 1S74. 36
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0287" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/130931"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> ur Geschichte der französischen Jusionsbewegung.<lb/>
Erster Artikel.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_881"> Die Versöhnung der beiden bourbonischen Linien war mehr als der<lb/>
Schlußact eines Familiendramas, sie war ein Ereigniß von entschieden<lb/>
politischer Bedeutung, und als ein solches wollten die unmittelbar Betheiligten<lb/>
es auch angesehen wissen. Das fühlten auch die Republikaner sofort heraus,<lb/>
wie sehr sie sich auch bemühten, in Zeitungsartikeln einen geringschätzigen<lb/>
Ton anzuschlagen. Es galt ja eben bei den Republikanern für einen Beweis<lb/>
von großer Schlauheit, unbequeme Thatsachen als bedeutungslos darzustellen<lb/>
und allen Gefahren dadurch zu begegnen, daß man vor ihnen die Augen<lb/>
verschloß und sie ableugnete, indem man den sichtbaren Fortschritten der Geg¬<lb/>
ner die Behauptung von der unwiderstehlichen Macht der republikanischen<lb/>
Ideen entgegenstellte. Die absichtliche Selbsttäuschung war bei ihnen zum<lb/>
System ausgebildet worden. Weil sie sich der Fähigkeit zum Handeln beraubt<lb/>
fühlten, suchten sie sich und Andere zu überreden, daß ihre Sache zu stark<lb/>
sei, um ihrer thätigen Unterstützung zu bedürfen, daß sie vermöge der ihr<lb/>
inwohnenden Kraft über alle Umtriebe der Gegner den glänzendsten Sieg da¬<lb/>
vontragen werde. Frankreich ist republikanisch gesinnt, folglich muß jeder<lb/>
Versuch, die Monarchie herzustellen, scheitern; in dieser Beweisführung be¬<lb/>
gegneten sich &#x201E;Bien Public" und &#x201E;Republique Francaise" Thiers und Gam-<lb/>
betta, nicht beachtend, daß diese Methode für die Republikaner gradezu ver¬<lb/>
derblich werden mußte, daß sie dieselbe der Eigenschaften beraubte, deren eine<lb/>
Partei, zumal eine solche, die sich rühmt, das Land hinter sich zu haben,<lb/>
vor Allem bedarf: des Muthes und der Entschlossenheit. Ein Gambetta, der<lb/>
besonders schlau zu operiren glaubt, wenn er dem modernen Bajard, dem<lb/>
loyalsten Soldaten Frankreichs den Hof macht, ist nur noch die widrige Ca-<lb/>
ricatur eines Radikalen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_882" next="#ID_883"> Auch diesmal erging man sich in ziemlich wohlfeilen und jedenfalls völlig<lb/>
wirkungslosen Spott über das Ereigniß des Tages; aber in der gespannten<lb/>
Aufmerksamkeit, mit der man jeden Schritt der Fusionisten verfolgte, trat<lb/>
die Furcht vor deren Entwürfen deutlich genug zu Tage. Hatten die bei-</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grmzbotm I. 1S74. 36</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0287] ur Geschichte der französischen Jusionsbewegung. Erster Artikel. Die Versöhnung der beiden bourbonischen Linien war mehr als der Schlußact eines Familiendramas, sie war ein Ereigniß von entschieden politischer Bedeutung, und als ein solches wollten die unmittelbar Betheiligten es auch angesehen wissen. Das fühlten auch die Republikaner sofort heraus, wie sehr sie sich auch bemühten, in Zeitungsartikeln einen geringschätzigen Ton anzuschlagen. Es galt ja eben bei den Republikanern für einen Beweis von großer Schlauheit, unbequeme Thatsachen als bedeutungslos darzustellen und allen Gefahren dadurch zu begegnen, daß man vor ihnen die Augen verschloß und sie ableugnete, indem man den sichtbaren Fortschritten der Geg¬ ner die Behauptung von der unwiderstehlichen Macht der republikanischen Ideen entgegenstellte. Die absichtliche Selbsttäuschung war bei ihnen zum System ausgebildet worden. Weil sie sich der Fähigkeit zum Handeln beraubt fühlten, suchten sie sich und Andere zu überreden, daß ihre Sache zu stark sei, um ihrer thätigen Unterstützung zu bedürfen, daß sie vermöge der ihr inwohnenden Kraft über alle Umtriebe der Gegner den glänzendsten Sieg da¬ vontragen werde. Frankreich ist republikanisch gesinnt, folglich muß jeder Versuch, die Monarchie herzustellen, scheitern; in dieser Beweisführung be¬ gegneten sich „Bien Public" und „Republique Francaise" Thiers und Gam- betta, nicht beachtend, daß diese Methode für die Republikaner gradezu ver¬ derblich werden mußte, daß sie dieselbe der Eigenschaften beraubte, deren eine Partei, zumal eine solche, die sich rühmt, das Land hinter sich zu haben, vor Allem bedarf: des Muthes und der Entschlossenheit. Ein Gambetta, der besonders schlau zu operiren glaubt, wenn er dem modernen Bajard, dem loyalsten Soldaten Frankreichs den Hof macht, ist nur noch die widrige Ca- ricatur eines Radikalen. Auch diesmal erging man sich in ziemlich wohlfeilen und jedenfalls völlig wirkungslosen Spott über das Ereigniß des Tages; aber in der gespannten Aufmerksamkeit, mit der man jeden Schritt der Fusionisten verfolgte, trat die Furcht vor deren Entwürfen deutlich genug zu Tage. Hatten die bei- Grmzbotm I. 1S74. 36

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/287
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/287>, abgerufen am 24.12.2024.