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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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Vertreter der rechtsgesetzgeberischen Aufgaben des Reichs vervollständigt wird,
so ist die Trennung der'Geschäftszweige vollzogen. Es kann dann eine Re¬
organisation des preußischen Ministeriums stattfinden, aus welchem die Ver¬
waltungen des Auswärtigen, des Krieges und der Marine ausgeschieden sind.
Es ermöglicht sich dann eine Theilung des mit Geschäften überladenen Mi¬
nisteriums des Innern, vielleicht in eine Centralverwaltung der technischen
Polizei, in welche das Medicinalwesen aus dem Cultusministerium herüberzu¬
nehmen wäre, und in eine Centralverwaltung der Friedenspolizei und der or¬
ganisatorischen Angelegenheiten der Localverrvaltung. Der kaiserlichen Behörde
müßten die königlichen Behörden für die Zwecke des Reiches zur Verfügung
stehen. Auf den Fortgang aller dem einzelstaatlichen Bereich verbleibenden
Angelegenheiten hätte dann allerdings der Reichskanzler keinen unmittelbaren
Einfluß mehr. Die Wirkung wäre vielleicht, daß die Grenzen der Reichs-
funetionen sich destomehr ausdehnen.

Wir denken nicht entfernt daran, aus den besprochenen Möglichkeiten die
wahrscheinlichere zu bezeichnen. Wir haben dieselben überhaupt nur dargelegt,
um den Inhalt und die Wichtigkeit der Frage anzuzeigen, welche der Reichs¬
kanzler aufgeworfen und seit seiner gestern erfolgten Rückkunft jedenfalls zum
ersten Gegenstand seiner Anstrengungen gemacht' hat.


0--r.


Karl Iraun's ToKai und Z6kai.*)

Ungarn ist dem westlichen Europa, zu dem wir in diesem Falle Deutsch¬
land anrechnen. heute noch ein halb unbekanntes Land. Seine landschaft¬
lichen Schönheiten und Schattenseiten, die Vorzüge und Untugenden in dem
Leben und den Sitten seiner Bewohner, die ganze Organisation seiner Ge¬
sellschaft und Wirthschaft, selbst die Gestaltung seiner politischen Verhältnisse,
die Kämpfe, Strebungen, Kampfmittel und Bündnisse seiner Parteien u. s. w.
sind uns im Grunde nur wenig mehr bekannt als dieselben Verhältnisse in
Jnnerrußland und der Türkei. Am wenigsten kennen und beurtheilen wir
richtig die Fortschritte, welche das eminent begabte Volk in den wenigen
Jahren gemacht hat, seitdem der Alp der östreichischen Reaction ihm von der
Brust genommen ist und es im eigenen Hause durch seine eigenen Leute regiert.
Diese Thatsache, daß erst ein kaum nennenswerter Zeitpunkt verflossen ist,
seitdem die Ungarn ein selbständiges Staatsleben führen, ist auch zugleich der
Hauptgrund, warum in Deutschland über das reiche innere Leben, das dort
an der untern Donau und Theiß zu neuer Blüthe sich regt, bis jetzt so
wenig geschrieben worden ist. Man begnügte sich bei uns bisher mit den
alten Gemeinplätzen alter Ueberlieferungen oder mit schwergelehrten Unter¬
suchungen über die ethnographische Abstammung der Magyaren, und die her¬
vorragendsten Züge ihrer Geschichte, die aber weitab liegen von den wichtig¬
sten Erscheinungen ihres modernen Volkslebens. Nun hat der zähe Ver¬
fassungskampf der Ungarn sein Ziel erreicht: ein Kampf, der vielleicht nur



') Total und Jükai. Bilder aus Ungarn von Karl Braun-Wiesbaden, Berlin, Georg
Stille 187".

Vertreter der rechtsgesetzgeberischen Aufgaben des Reichs vervollständigt wird,
so ist die Trennung der'Geschäftszweige vollzogen. Es kann dann eine Re¬
organisation des preußischen Ministeriums stattfinden, aus welchem die Ver¬
waltungen des Auswärtigen, des Krieges und der Marine ausgeschieden sind.
Es ermöglicht sich dann eine Theilung des mit Geschäften überladenen Mi¬
nisteriums des Innern, vielleicht in eine Centralverwaltung der technischen
Polizei, in welche das Medicinalwesen aus dem Cultusministerium herüberzu¬
nehmen wäre, und in eine Centralverwaltung der Friedenspolizei und der or¬
ganisatorischen Angelegenheiten der Localverrvaltung. Der kaiserlichen Behörde
müßten die königlichen Behörden für die Zwecke des Reiches zur Verfügung
stehen. Auf den Fortgang aller dem einzelstaatlichen Bereich verbleibenden
Angelegenheiten hätte dann allerdings der Reichskanzler keinen unmittelbaren
Einfluß mehr. Die Wirkung wäre vielleicht, daß die Grenzen der Reichs-
funetionen sich destomehr ausdehnen.

Wir denken nicht entfernt daran, aus den besprochenen Möglichkeiten die
wahrscheinlichere zu bezeichnen. Wir haben dieselben überhaupt nur dargelegt,
um den Inhalt und die Wichtigkeit der Frage anzuzeigen, welche der Reichs¬
kanzler aufgeworfen und seit seiner gestern erfolgten Rückkunft jedenfalls zum
ersten Gegenstand seiner Anstrengungen gemacht' hat.


0—r.


Karl Iraun's ToKai und Z6kai.*)

Ungarn ist dem westlichen Europa, zu dem wir in diesem Falle Deutsch¬
land anrechnen. heute noch ein halb unbekanntes Land. Seine landschaft¬
lichen Schönheiten und Schattenseiten, die Vorzüge und Untugenden in dem
Leben und den Sitten seiner Bewohner, die ganze Organisation seiner Ge¬
sellschaft und Wirthschaft, selbst die Gestaltung seiner politischen Verhältnisse,
die Kämpfe, Strebungen, Kampfmittel und Bündnisse seiner Parteien u. s. w.
sind uns im Grunde nur wenig mehr bekannt als dieselben Verhältnisse in
Jnnerrußland und der Türkei. Am wenigsten kennen und beurtheilen wir
richtig die Fortschritte, welche das eminent begabte Volk in den wenigen
Jahren gemacht hat, seitdem der Alp der östreichischen Reaction ihm von der
Brust genommen ist und es im eigenen Hause durch seine eigenen Leute regiert.
Diese Thatsache, daß erst ein kaum nennenswerter Zeitpunkt verflossen ist,
seitdem die Ungarn ein selbständiges Staatsleben führen, ist auch zugleich der
Hauptgrund, warum in Deutschland über das reiche innere Leben, das dort
an der untern Donau und Theiß zu neuer Blüthe sich regt, bis jetzt so
wenig geschrieben worden ist. Man begnügte sich bei uns bisher mit den
alten Gemeinplätzen alter Ueberlieferungen oder mit schwergelehrten Unter¬
suchungen über die ethnographische Abstammung der Magyaren, und die her¬
vorragendsten Züge ihrer Geschichte, die aber weitab liegen von den wichtig¬
sten Erscheinungen ihres modernen Volkslebens. Nun hat der zähe Ver¬
fassungskampf der Ungarn sein Ziel erreicht: ein Kampf, der vielleicht nur



') Total und Jükai. Bilder aus Ungarn von Karl Braun-Wiesbaden, Berlin, Georg
Stille 187».
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/522>, abgerufen am 28.06.2024.