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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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sowie von dem Untersuchungsrichter erhoben werden, machen wir Mittheilung,
wenn dieselben etwas fester stehen, als in diesem Augenblick.




Aus unsern vier Wänden.

Es mögen jetzt über zehn Jahre vergangen sein, als der Verfasser dieser Zeilen
eines Abends, wie schon öfters zuvor, in die häuslichen Räume eines der da¬
mals gefeiertsten deutschen Hochschullehrer eintrat. Der ehrwürdige Gelehrte
und treffliche, unbeugsame Character, bei dem zwei Generationen gelernt haben
zu denken und -- klar und fest zu wollen und zu handeln, war an jenem
Abend in einer ganz besonders heitern Stimmung. Nach dem Abend¬
tisch ergriff er ein kleines unscheinbares Octavbändchen und schickte sich an,
wider seine Gewohnheit vorzulesen. Zuvor aber erklärte er, daß ihm das
kleine Buch einen seltenen Genuß bereitet habe; denn namentlich schildere es mit
seltener Treue, mit dem glücklichsten Humor und mit den feinsten Nüancen
des Dialectes und der Eigenart das Familienleben der ostpreußischen Heimath
des verehrten alten Herrn. Wir hingen an den Lippen des Meisters so an¬
dächtig und lauschend, wie jemals vordem im Colleg, als er uns jetzt mit
wunderbarer Modulation der Stimme und mit jugendlichster Frische einige
Kapitel vortrug, die er auf dem Katheder noch nie gelesen hatte: "Morgen
ein Vierteljahr"; "Mütterchen" "Schühchen" u. s. w. Der Eindruck dieser
Vorlesung steht heute, nach zehn Jahren, noch so tief und lebendig vor uns,
wie damals. Alles fragte nach dem Titel und dem Verfasser des kleinen Buches.
Darauf lautete die Antwort: "Aus unsern vier Wänden von Rudolf
Reichen an." Mehr wußte niemand, auch der Meister nicht. Daß der Name des
Verfassers ein Pseudonym sei, galt wol Allen in unserm damaligem Kreise als ausge¬
macht. Die Meisten riethen zuversichtlich auf eine Dame. So sein und zart, so
glücklich und bewegend, könne nur Frauenhand die kleinen Geheimnisse des Lebens
und Treibens der Kleinen schildern. Einige wollten sogar die Verfasserin
kennen, aber sie hüllten den Namen in kluges Schweigen. Dieses Schweigen
stellte sich als sehr klug heraus, als kurze Zeit darauf bekannt wurde, daß
der Name Rudolf Reichenau durchaus von keinem Mitgliede des zarten Ge¬
schlechts Pseudonym getragen werde, sondern seinem rechtmäßigen männlichen
Inhaber angehöre und daß dieser, obwohl im heiratsfähigen Alter, ledig
geblieben, sogar ein bischen schwermüthigen Temperamentes und ein Jurist
aus Ostpreußen sei.

Mit diesem einen Werke hatte Rudolf Reichenau sich dauernden
Ruhm in der Geschichte der deutschen Literatur erworben. Denn wieviele


Grenzboten 1872. IV. 60

sowie von dem Untersuchungsrichter erhoben werden, machen wir Mittheilung,
wenn dieselben etwas fester stehen, als in diesem Augenblick.




Aus unsern vier Wänden.

Es mögen jetzt über zehn Jahre vergangen sein, als der Verfasser dieser Zeilen
eines Abends, wie schon öfters zuvor, in die häuslichen Räume eines der da¬
mals gefeiertsten deutschen Hochschullehrer eintrat. Der ehrwürdige Gelehrte
und treffliche, unbeugsame Character, bei dem zwei Generationen gelernt haben
zu denken und — klar und fest zu wollen und zu handeln, war an jenem
Abend in einer ganz besonders heitern Stimmung. Nach dem Abend¬
tisch ergriff er ein kleines unscheinbares Octavbändchen und schickte sich an,
wider seine Gewohnheit vorzulesen. Zuvor aber erklärte er, daß ihm das
kleine Buch einen seltenen Genuß bereitet habe; denn namentlich schildere es mit
seltener Treue, mit dem glücklichsten Humor und mit den feinsten Nüancen
des Dialectes und der Eigenart das Familienleben der ostpreußischen Heimath
des verehrten alten Herrn. Wir hingen an den Lippen des Meisters so an¬
dächtig und lauschend, wie jemals vordem im Colleg, als er uns jetzt mit
wunderbarer Modulation der Stimme und mit jugendlichster Frische einige
Kapitel vortrug, die er auf dem Katheder noch nie gelesen hatte: „Morgen
ein Vierteljahr"; „Mütterchen" „Schühchen" u. s. w. Der Eindruck dieser
Vorlesung steht heute, nach zehn Jahren, noch so tief und lebendig vor uns,
wie damals. Alles fragte nach dem Titel und dem Verfasser des kleinen Buches.
Darauf lautete die Antwort: „Aus unsern vier Wänden von Rudolf
Reichen an." Mehr wußte niemand, auch der Meister nicht. Daß der Name des
Verfassers ein Pseudonym sei, galt wol Allen in unserm damaligem Kreise als ausge¬
macht. Die Meisten riethen zuversichtlich auf eine Dame. So sein und zart, so
glücklich und bewegend, könne nur Frauenhand die kleinen Geheimnisse des Lebens
und Treibens der Kleinen schildern. Einige wollten sogar die Verfasserin
kennen, aber sie hüllten den Namen in kluges Schweigen. Dieses Schweigen
stellte sich als sehr klug heraus, als kurze Zeit darauf bekannt wurde, daß
der Name Rudolf Reichenau durchaus von keinem Mitgliede des zarten Ge¬
schlechts Pseudonym getragen werde, sondern seinem rechtmäßigen männlichen
Inhaber angehöre und daß dieser, obwohl im heiratsfähigen Alter, ledig
geblieben, sogar ein bischen schwermüthigen Temperamentes und ein Jurist
aus Ostpreußen sei.

Mit diesem einen Werke hatte Rudolf Reichenau sich dauernden
Ruhm in der Geschichte der deutschen Literatur erworben. Denn wieviele


Grenzboten 1872. IV. 60
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[0401] sowie von dem Untersuchungsrichter erhoben werden, machen wir Mittheilung, wenn dieselben etwas fester stehen, als in diesem Augenblick. Aus unsern vier Wänden. Es mögen jetzt über zehn Jahre vergangen sein, als der Verfasser dieser Zeilen eines Abends, wie schon öfters zuvor, in die häuslichen Räume eines der da¬ mals gefeiertsten deutschen Hochschullehrer eintrat. Der ehrwürdige Gelehrte und treffliche, unbeugsame Character, bei dem zwei Generationen gelernt haben zu denken und — klar und fest zu wollen und zu handeln, war an jenem Abend in einer ganz besonders heitern Stimmung. Nach dem Abend¬ tisch ergriff er ein kleines unscheinbares Octavbändchen und schickte sich an, wider seine Gewohnheit vorzulesen. Zuvor aber erklärte er, daß ihm das kleine Buch einen seltenen Genuß bereitet habe; denn namentlich schildere es mit seltener Treue, mit dem glücklichsten Humor und mit den feinsten Nüancen des Dialectes und der Eigenart das Familienleben der ostpreußischen Heimath des verehrten alten Herrn. Wir hingen an den Lippen des Meisters so an¬ dächtig und lauschend, wie jemals vordem im Colleg, als er uns jetzt mit wunderbarer Modulation der Stimme und mit jugendlichster Frische einige Kapitel vortrug, die er auf dem Katheder noch nie gelesen hatte: „Morgen ein Vierteljahr"; „Mütterchen" „Schühchen" u. s. w. Der Eindruck dieser Vorlesung steht heute, nach zehn Jahren, noch so tief und lebendig vor uns, wie damals. Alles fragte nach dem Titel und dem Verfasser des kleinen Buches. Darauf lautete die Antwort: „Aus unsern vier Wänden von Rudolf Reichen an." Mehr wußte niemand, auch der Meister nicht. Daß der Name des Verfassers ein Pseudonym sei, galt wol Allen in unserm damaligem Kreise als ausge¬ macht. Die Meisten riethen zuversichtlich auf eine Dame. So sein und zart, so glücklich und bewegend, könne nur Frauenhand die kleinen Geheimnisse des Lebens und Treibens der Kleinen schildern. Einige wollten sogar die Verfasserin kennen, aber sie hüllten den Namen in kluges Schweigen. Dieses Schweigen stellte sich als sehr klug heraus, als kurze Zeit darauf bekannt wurde, daß der Name Rudolf Reichenau durchaus von keinem Mitgliede des zarten Ge¬ schlechts Pseudonym getragen werde, sondern seinem rechtmäßigen männlichen Inhaber angehöre und daß dieser, obwohl im heiratsfähigen Alter, ledig geblieben, sogar ein bischen schwermüthigen Temperamentes und ein Jurist aus Ostpreußen sei. Mit diesem einen Werke hatte Rudolf Reichenau sich dauernden Ruhm in der Geschichte der deutschen Literatur erworben. Denn wieviele Grenzboten 1872. IV. 60

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/401>, abgerufen am 28.06.2024.