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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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Zigeunersttten.
i.

Im Laufe des verflossenen Sommers sollte, so hatten im Frühjahr die
Zeitungen gemeldet, zu Cannstatt in Württemberg eine große berathende
Versammlung der Zigeuner unter Vorsitz ihres Königs Joseph Reinhardt
stattfinden. Schon einige Monate früher war vom Zusammentritt eines sol¬
chen Zigeunerparlaments die Rede gewesen, und zwar hatte Unter-Türkheim
der Ort sein sollen, wo es zu tagen bestimmt wäre. Zum Leidwesen der
Cannstadter und Türkheimer Wirthe und zu großem Verdruß einer Anzahl
von Correspondenten, Feuilletonisten und Touristen wurde beide Male nichts
aus der Sache, und die Zigeuner verschwanden wieder aus den Zeitungen
und aus dem Gespräch, bis sie vor einigen Monaten plötzlich als Entführer
der kleinen Anna Böckler wieder auftauchten. Das Kind ist bis heute noch
nicht wiedergefunden, aber es ist seit seinem Verschwinden so viel Halbwahres
und Unwahres durch die Presse gegangen, daß es die Mühe zu lohnen scheint,
die Zigeuner einmal nach der Wahrheit zu Portraitiren. Eine gelehrte Unter¬
suchung über ihre Herkunft und Sprache liegt uns dabei fern, und auch aus
ihrer Geschichte -- wenn bei einem Volksstamm ohne festen Wohnsitz und
ohne schriftliche Ueberlieferung von Geschichte zu reden ist -- sollen nur ein
paar Farbenstriche zu dem Bilde verwendet werden, welches überdieß in der
Hauptsache nur die in Deutschland und dessen Nachbarländern umherziehenden
Zigeuner darstellen soll.

Der Abstammung nach sind die Zigeuner wahrscheinlich ein Volk des
südöstlichen Asiens, vielleicht Hindus niederer Kaste. Was sie von da nach
dem Nordwesten wandern ließ, ist unbekannt, ebenso, wie die Zeit, die sie ge¬
braucht, der Weg, den sie durchmessen, und die Reihe von Schicksalen, die sie
erlebt haben, bis sie im Jahre 1417 in starken Zügen in Deutschland er¬
scheinen. Möglich, daß die Sagen, die sie damals mitbrachten, ein paar
Körner Wahrheit enthielten, daß eine dunkle Erinnerung an ein oder das
andere Factum in dem Liede verkörpert war, nach welchem sie aus ihrer Hei¬
math von "Undewol, der über den Wolken wohnt", vertrieben und zu ewigem
Wandern verurtheilt worden waren, weil sie ihm ungehorsam gewesen; daß


Grenzboten IV. 1872. 26
Zigeunersttten.
i.

Im Laufe des verflossenen Sommers sollte, so hatten im Frühjahr die
Zeitungen gemeldet, zu Cannstatt in Württemberg eine große berathende
Versammlung der Zigeuner unter Vorsitz ihres Königs Joseph Reinhardt
stattfinden. Schon einige Monate früher war vom Zusammentritt eines sol¬
chen Zigeunerparlaments die Rede gewesen, und zwar hatte Unter-Türkheim
der Ort sein sollen, wo es zu tagen bestimmt wäre. Zum Leidwesen der
Cannstadter und Türkheimer Wirthe und zu großem Verdruß einer Anzahl
von Correspondenten, Feuilletonisten und Touristen wurde beide Male nichts
aus der Sache, und die Zigeuner verschwanden wieder aus den Zeitungen
und aus dem Gespräch, bis sie vor einigen Monaten plötzlich als Entführer
der kleinen Anna Böckler wieder auftauchten. Das Kind ist bis heute noch
nicht wiedergefunden, aber es ist seit seinem Verschwinden so viel Halbwahres
und Unwahres durch die Presse gegangen, daß es die Mühe zu lohnen scheint,
die Zigeuner einmal nach der Wahrheit zu Portraitiren. Eine gelehrte Unter¬
suchung über ihre Herkunft und Sprache liegt uns dabei fern, und auch aus
ihrer Geschichte — wenn bei einem Volksstamm ohne festen Wohnsitz und
ohne schriftliche Ueberlieferung von Geschichte zu reden ist — sollen nur ein
paar Farbenstriche zu dem Bilde verwendet werden, welches überdieß in der
Hauptsache nur die in Deutschland und dessen Nachbarländern umherziehenden
Zigeuner darstellen soll.

Der Abstammung nach sind die Zigeuner wahrscheinlich ein Volk des
südöstlichen Asiens, vielleicht Hindus niederer Kaste. Was sie von da nach
dem Nordwesten wandern ließ, ist unbekannt, ebenso, wie die Zeit, die sie ge¬
braucht, der Weg, den sie durchmessen, und die Reihe von Schicksalen, die sie
erlebt haben, bis sie im Jahre 1417 in starken Zügen in Deutschland er¬
scheinen. Möglich, daß die Sagen, die sie damals mitbrachten, ein paar
Körner Wahrheit enthielten, daß eine dunkle Erinnerung an ein oder das
andere Factum in dem Liede verkörpert war, nach welchem sie aus ihrer Hei¬
math von „Undewol, der über den Wolken wohnt", vertrieben und zu ewigem
Wandern verurtheilt worden waren, weil sie ihm ungehorsam gewesen; daß


Grenzboten IV. 1872. 26
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[0209] Zigeunersttten. i. Im Laufe des verflossenen Sommers sollte, so hatten im Frühjahr die Zeitungen gemeldet, zu Cannstatt in Württemberg eine große berathende Versammlung der Zigeuner unter Vorsitz ihres Königs Joseph Reinhardt stattfinden. Schon einige Monate früher war vom Zusammentritt eines sol¬ chen Zigeunerparlaments die Rede gewesen, und zwar hatte Unter-Türkheim der Ort sein sollen, wo es zu tagen bestimmt wäre. Zum Leidwesen der Cannstadter und Türkheimer Wirthe und zu großem Verdruß einer Anzahl von Correspondenten, Feuilletonisten und Touristen wurde beide Male nichts aus der Sache, und die Zigeuner verschwanden wieder aus den Zeitungen und aus dem Gespräch, bis sie vor einigen Monaten plötzlich als Entführer der kleinen Anna Böckler wieder auftauchten. Das Kind ist bis heute noch nicht wiedergefunden, aber es ist seit seinem Verschwinden so viel Halbwahres und Unwahres durch die Presse gegangen, daß es die Mühe zu lohnen scheint, die Zigeuner einmal nach der Wahrheit zu Portraitiren. Eine gelehrte Unter¬ suchung über ihre Herkunft und Sprache liegt uns dabei fern, und auch aus ihrer Geschichte — wenn bei einem Volksstamm ohne festen Wohnsitz und ohne schriftliche Ueberlieferung von Geschichte zu reden ist — sollen nur ein paar Farbenstriche zu dem Bilde verwendet werden, welches überdieß in der Hauptsache nur die in Deutschland und dessen Nachbarländern umherziehenden Zigeuner darstellen soll. Der Abstammung nach sind die Zigeuner wahrscheinlich ein Volk des südöstlichen Asiens, vielleicht Hindus niederer Kaste. Was sie von da nach dem Nordwesten wandern ließ, ist unbekannt, ebenso, wie die Zeit, die sie ge¬ braucht, der Weg, den sie durchmessen, und die Reihe von Schicksalen, die sie erlebt haben, bis sie im Jahre 1417 in starken Zügen in Deutschland er¬ scheinen. Möglich, daß die Sagen, die sie damals mitbrachten, ein paar Körner Wahrheit enthielten, daß eine dunkle Erinnerung an ein oder das andere Factum in dem Liede verkörpert war, nach welchem sie aus ihrer Hei¬ math von „Undewol, der über den Wolken wohnt", vertrieben und zu ewigem Wandern verurtheilt worden waren, weil sie ihm ungehorsam gewesen; daß Grenzboten IV. 1872. 26

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/209>, abgerufen am 28.06.2024.