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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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und zwar direkt auf die Kirche zu. Dort verrichten alle -- elf an der Zahl
-- ihr Gebet; dann legen sie die Waffen auf dem Hochaltar nieder und er¬
klären feierlich, daß sie Gefangene der Civilbehörde seien. Dieser Erklä¬
rung schließt sich die Brigantessa Antonia Scarrano an, welche gemeinschaft¬
lich mit den Räubern "gearbeitet". Das darf nicht Wunder nehmen. Jene
Briganten waren in ihrer Weise "fromme Leute". Sie hatten eine Zeit lang
einen Priester bei sich gehabt, der ihnen regelmäßig Messe lesen mußte, der
die Beichte hörte und, was die Hauptsache war, ihnen Absolution ertheilte.
Alle waren über und über behängt mit Kreuzen, Amuletten und Heiligen¬
bildern, die aus der päpstlichen Hauptstadt stammten. Carbone wußte wohl,
warum er sich den Civilbehörden stellte: diese sperrten ihn ein, Pallavicini
hätte ihn erschossen.

Vor uns liegt die amtliche italienische Berbrecherstatistik für das Jahr
1867; eine neueren Datums haben wir nicht erhalten können; da aber in
fünf Jahren wenig besser geworden ist, so wird es erlaubt sein, auf jene
zurückzugreifen, um die Criminalzustände zu charakterisiren. Danach betrug
die Zahl der Mordthaten in jenem Jahre 2626, worunter 306 von Weibern
verübte. Italien hat in Bezug auf Morde in Europa den Borrang, denn
auf 100,000 Seelen entfallen beinahe 11 Morde! In Spanien über 8 --
in England und Schweden nur 2. Aber in Italien selbst muß man zwischen
dem Norden und Süden einen großen Unterschied machen; der Norden ist
hierin kaum verschieden von dem übrigen Europa, aber in dem ehemals
päpstlichen Gebiete und im ehemaligen Königreich Sicilien -- da erreicht das
Verbrechen einen schauderregenden Höhenpunkt. Auf Venetien kommen kaum
2 Morde auf je 100,000 Seelen im Jahre -- aber auf Calabrien fast 31.
"Alle südlichen Provinzen stehen in dem traurigen Blutkapitel in vorderster
Reihe: Sicilien, Sardinien, die Marken und Umbrien." So heißt es in dem
offiziellen Bericht. Da wird es begreiflich, wenn das neapolitanische Blatt
Pungolo schreibt: "Der Zustand der Dinge ist in hohem Grade beunruhi¬
gend; wir haben unbedingt strengere Gesetze im Interesse der öffentlichen
Sicherheit nöthig. Die alte Camorra ist in ihrer scheußlichsten Gestalt wieder
auferstanden; am hellen Tage wird den Leuten aus offener Straße Geld ab¬
gepreßt. Mordthaten kommen in wachsender Menge vor -- die Gesetze sind
s. viel zu gelinde und sie werden schüchtern und nachlässig vollzogen."




Unpolitische Iriefe aus Aerlm.
Die Kunstausstellung.

Sie wünschen unpolitische Briefe aus Berlin über die Vorgänge des
wissenschaftlichen, künstlerischen und socialen Lebens. Sie vertrauen einer


und zwar direkt auf die Kirche zu. Dort verrichten alle — elf an der Zahl
— ihr Gebet; dann legen sie die Waffen auf dem Hochaltar nieder und er¬
klären feierlich, daß sie Gefangene der Civilbehörde seien. Dieser Erklä¬
rung schließt sich die Brigantessa Antonia Scarrano an, welche gemeinschaft¬
lich mit den Räubern „gearbeitet". Das darf nicht Wunder nehmen. Jene
Briganten waren in ihrer Weise „fromme Leute". Sie hatten eine Zeit lang
einen Priester bei sich gehabt, der ihnen regelmäßig Messe lesen mußte, der
die Beichte hörte und, was die Hauptsache war, ihnen Absolution ertheilte.
Alle waren über und über behängt mit Kreuzen, Amuletten und Heiligen¬
bildern, die aus der päpstlichen Hauptstadt stammten. Carbone wußte wohl,
warum er sich den Civilbehörden stellte: diese sperrten ihn ein, Pallavicini
hätte ihn erschossen.

Vor uns liegt die amtliche italienische Berbrecherstatistik für das Jahr
1867; eine neueren Datums haben wir nicht erhalten können; da aber in
fünf Jahren wenig besser geworden ist, so wird es erlaubt sein, auf jene
zurückzugreifen, um die Criminalzustände zu charakterisiren. Danach betrug
die Zahl der Mordthaten in jenem Jahre 2626, worunter 306 von Weibern
verübte. Italien hat in Bezug auf Morde in Europa den Borrang, denn
auf 100,000 Seelen entfallen beinahe 11 Morde! In Spanien über 8 —
in England und Schweden nur 2. Aber in Italien selbst muß man zwischen
dem Norden und Süden einen großen Unterschied machen; der Norden ist
hierin kaum verschieden von dem übrigen Europa, aber in dem ehemals
päpstlichen Gebiete und im ehemaligen Königreich Sicilien — da erreicht das
Verbrechen einen schauderregenden Höhenpunkt. Auf Venetien kommen kaum
2 Morde auf je 100,000 Seelen im Jahre — aber auf Calabrien fast 31.
„Alle südlichen Provinzen stehen in dem traurigen Blutkapitel in vorderster
Reihe: Sicilien, Sardinien, die Marken und Umbrien." So heißt es in dem
offiziellen Bericht. Da wird es begreiflich, wenn das neapolitanische Blatt
Pungolo schreibt: „Der Zustand der Dinge ist in hohem Grade beunruhi¬
gend; wir haben unbedingt strengere Gesetze im Interesse der öffentlichen
Sicherheit nöthig. Die alte Camorra ist in ihrer scheußlichsten Gestalt wieder
auferstanden; am hellen Tage wird den Leuten aus offener Straße Geld ab¬
gepreßt. Mordthaten kommen in wachsender Menge vor — die Gesetze sind
s. viel zu gelinde und sie werden schüchtern und nachlässig vollzogen."




Unpolitische Iriefe aus Aerlm.
Die Kunstausstellung.

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wissenschaftlichen, künstlerischen und socialen Lebens. Sie vertrauen einer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/199>, abgerufen am 03.07.2024.