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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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Frankreich und die allgemeine Wehrpflicht
von
Max Jähns. VIII.

Die Herstellung der Armee erwies sich 1813 bedeutend schwieriger als
im vorhergegangenen Jahre. Die Trennung zwischen Volk und Heer, die
Tyrannis, welche das letztere schon so lange über Frankreich ausgeübt/ war
durch die Hundert Tage schärfer als jemals ausgeprägt. Nun wehten zwar
wieder die weißen Fahnen über den Truppen; diese selbst aber waren un¬
verändert; von den gleichen Neigungen und Instincten wie seit zehn Jahren
erfüllt, sahen sie sich gedemüthigt und besiegt einer Regierung, ja einem
Volke gegenüber, zu der sie kein Zutrauen fassen mochten, das sich von ihnen
abwendete. Das Gefühl, von der Armee gewaltsam in jenes fürchterliche
Abenteuer der Hundert Tage hineingerissen worden zu sein, welches Frankreich
so viel Blut, Landabtretung und an anderthalb Milliarden Franken gekostet,
trug viel zu dem widerwärtigen Schauspiel des "weißen Schreckens" bei, dem
ein Mann wie der Marschall Brune zum Opfer siel. Es ist völlig verfehlt,
mit den ruchlosen Gewaltsamkeiten toller Pöbelrotten die Verurteilungen
und Hinrichtungen auf eine Stufe zu stellen, welche so offenbare Verräther trafen,
wie den Obersten Labedoyöre, die Generale Mouton-Duperret und Chartrand
und namentlich den Marschall Ney. Einer Sühne bedürfte der schamlose
Treubruch; wenn man die Häupter traf, um der Masse weithin sichtbare Lehren
zu geben, so konnte man hoffen, eine heilsame Erschütterung des Gemüthes
hervorzubringen und das Gewissen aller derer zu berühren, die jener Männer
Mitschuldige gewesen. Aber so tief schon war die Begriffsverwirrung in der
französischen Armee, daß dieser Zweck keinesweges, vielmehr sein Gegentheil
erreicht ward. Man erblickte in Labedoyere nur den begeisterten Anhänger
"des größten Mannes aller Zeiten", in Ney immer nur den Bravsten der
Braven, den Helden von Moskau, -- und mit schlecht verhehlter Verachtung
verglich man diesen Heroen die königlichen Prinzen, welche man jetzt in den
höchsten Stellen der Armee fand. War es nicht ominös, daß Monsieur, der


Grcnzlwtcn III. 1872. 5g
Frankreich und die allgemeine Wehrpflicht
von
Max Jähns. VIII.

Die Herstellung der Armee erwies sich 1813 bedeutend schwieriger als
im vorhergegangenen Jahre. Die Trennung zwischen Volk und Heer, die
Tyrannis, welche das letztere schon so lange über Frankreich ausgeübt/ war
durch die Hundert Tage schärfer als jemals ausgeprägt. Nun wehten zwar
wieder die weißen Fahnen über den Truppen; diese selbst aber waren un¬
verändert; von den gleichen Neigungen und Instincten wie seit zehn Jahren
erfüllt, sahen sie sich gedemüthigt und besiegt einer Regierung, ja einem
Volke gegenüber, zu der sie kein Zutrauen fassen mochten, das sich von ihnen
abwendete. Das Gefühl, von der Armee gewaltsam in jenes fürchterliche
Abenteuer der Hundert Tage hineingerissen worden zu sein, welches Frankreich
so viel Blut, Landabtretung und an anderthalb Milliarden Franken gekostet,
trug viel zu dem widerwärtigen Schauspiel des „weißen Schreckens" bei, dem
ein Mann wie der Marschall Brune zum Opfer siel. Es ist völlig verfehlt,
mit den ruchlosen Gewaltsamkeiten toller Pöbelrotten die Verurteilungen
und Hinrichtungen auf eine Stufe zu stellen, welche so offenbare Verräther trafen,
wie den Obersten Labedoyöre, die Generale Mouton-Duperret und Chartrand
und namentlich den Marschall Ney. Einer Sühne bedürfte der schamlose
Treubruch; wenn man die Häupter traf, um der Masse weithin sichtbare Lehren
zu geben, so konnte man hoffen, eine heilsame Erschütterung des Gemüthes
hervorzubringen und das Gewissen aller derer zu berühren, die jener Männer
Mitschuldige gewesen. Aber so tief schon war die Begriffsverwirrung in der
französischen Armee, daß dieser Zweck keinesweges, vielmehr sein Gegentheil
erreicht ward. Man erblickte in Labedoyere nur den begeisterten Anhänger
„des größten Mannes aller Zeiten", in Ney immer nur den Bravsten der
Braven, den Helden von Moskau, — und mit schlecht verhehlter Verachtung
verglich man diesen Heroen die königlichen Prinzen, welche man jetzt in den
höchsten Stellen der Armee fand. War es nicht ominös, daß Monsieur, der


Grcnzlwtcn III. 1872. 5g
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[0441] Frankreich und die allgemeine Wehrpflicht von Max Jähns. VIII. Die Herstellung der Armee erwies sich 1813 bedeutend schwieriger als im vorhergegangenen Jahre. Die Trennung zwischen Volk und Heer, die Tyrannis, welche das letztere schon so lange über Frankreich ausgeübt/ war durch die Hundert Tage schärfer als jemals ausgeprägt. Nun wehten zwar wieder die weißen Fahnen über den Truppen; diese selbst aber waren un¬ verändert; von den gleichen Neigungen und Instincten wie seit zehn Jahren erfüllt, sahen sie sich gedemüthigt und besiegt einer Regierung, ja einem Volke gegenüber, zu der sie kein Zutrauen fassen mochten, das sich von ihnen abwendete. Das Gefühl, von der Armee gewaltsam in jenes fürchterliche Abenteuer der Hundert Tage hineingerissen worden zu sein, welches Frankreich so viel Blut, Landabtretung und an anderthalb Milliarden Franken gekostet, trug viel zu dem widerwärtigen Schauspiel des „weißen Schreckens" bei, dem ein Mann wie der Marschall Brune zum Opfer siel. Es ist völlig verfehlt, mit den ruchlosen Gewaltsamkeiten toller Pöbelrotten die Verurteilungen und Hinrichtungen auf eine Stufe zu stellen, welche so offenbare Verräther trafen, wie den Obersten Labedoyöre, die Generale Mouton-Duperret und Chartrand und namentlich den Marschall Ney. Einer Sühne bedürfte der schamlose Treubruch; wenn man die Häupter traf, um der Masse weithin sichtbare Lehren zu geben, so konnte man hoffen, eine heilsame Erschütterung des Gemüthes hervorzubringen und das Gewissen aller derer zu berühren, die jener Männer Mitschuldige gewesen. Aber so tief schon war die Begriffsverwirrung in der französischen Armee, daß dieser Zweck keinesweges, vielmehr sein Gegentheil erreicht ward. Man erblickte in Labedoyere nur den begeisterten Anhänger „des größten Mannes aller Zeiten", in Ney immer nur den Bravsten der Braven, den Helden von Moskau, — und mit schlecht verhehlter Verachtung verglich man diesen Heroen die königlichen Prinzen, welche man jetzt in den höchsten Stellen der Armee fand. War es nicht ominös, daß Monsieur, der Grcnzlwtcn III. 1872. 5g

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/441>, abgerufen am 21.12.2024.