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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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Bruder des Königs, nicht nur an der Spitze der Nationalgarde, sondern auch
an der der jesuitischen Congregation stand? Schien nicht der Herzog von
Angouleme nur "der Mann seiner Frau" Marie Therese, welche Napoleon
nicht umsonst den einzigen Mann unter den Bourbonen genannt? War nicht
der Herzog von Berry ein Paradesoldat, ein launenhafter Kleinigkeitskrämer
und so voll von bourbonischen Stolze, daß er die napoleonischen Offiziere
bis zur Unverschämtheit taetlos behandelte?

Die Neuformation der Armee war bei dieser Stimmung ein Werk,
welches ebenso große diplomatische Klugheit als sachgemäße Kenntniß, einen
ebenso unbescholtenen Namen als bewährte Energie verlangte. Der König traf
eine glückliche Wahl, indem er den Marschall Gouvion Saint Chr zum
Kriegsminister wählte. Zugleich that man, um den feindlichen Geist der
Armee zu Paralysiren und um sich mit Sicherheit wenigstens auf die Mann¬
schaft einiger Provinzen stützen zu können, einen Schritt, der in der neueren
Heeresgeschichte Frankreichs einzig dasteht: man ging (freilich nur auf kurze
Zeit) zum Territorialsystem über. Die Infanterie-Regimenter wurden
aufgehoben und an ihrer Stelle 94 "Departementallegionen" errichtet, die aus
solchen jungen Leuten zusammengesetzt waren, welche aus ein und demselben
Departement stammten. Diese Organisation gewährte zugleich ein ebenso ein¬
faches als schnellwirkendes Mittel, um die durch die Entlassungen zerstreuten
militärischen Elemente zu gruppiren; sie erleichterte die Wiederherstellung des
Heeres. Natürlich konnten alle so getroffenen Maßregeln nur Palliative sein;
man mußte von vornherein daran denken, die binnen zwei Jahren durch de¬
finitive Verabschiedungen entstehenden Lücken auszufüllen, man mußte mit
einem Wort die Art der Recrutirung gesetzlich feststellen. Diese
Ausgabe war eine außerordentlich schwierige; der General Clarke, Herzog von
Feltre, welcher in Folge politischer Conjuncturen Se. Cyr abgelöst hatte, er¬
wies sich derselben nicht gewachsen, und so ernannte denn Louis XVIII. im
Juli 1817 aufs Neue Se. Eyr und dieser unterzog sich der ihm gewordenen
Aufgabe mit ebensoviel Hingabe wie Glück. -- Die Vorurtheile der Partei¬
männer und die Jnstincte der großen Masse waren gegenüber der Frage der
Heeresreorganisation gleich unklar. Viele Konstitutionelle zeigten sich über¬
haupt der Wiederaufrichtung einer permanenten Armee feindlich gesinnt und
betrachteten sie als eine Hemmung der öffentlichen Freiheit; die Masse der
Nation aber verband auf eine höchst wunderliche Weise tiefe Abneigung gegen
die Conscription mit schmerzlichem, anhänglichen Bedauern des "domino 16-
Mnclaire", der mit der Conscription doch einen dem Lande so verhängniß-
vollen Mißbrauch getrieben hatte.

Es gehörte viel Muth dazu, um so verwickelten Verhältnissen gegenüber


Bruder des Königs, nicht nur an der Spitze der Nationalgarde, sondern auch
an der der jesuitischen Congregation stand? Schien nicht der Herzog von
Angouleme nur „der Mann seiner Frau" Marie Therese, welche Napoleon
nicht umsonst den einzigen Mann unter den Bourbonen genannt? War nicht
der Herzog von Berry ein Paradesoldat, ein launenhafter Kleinigkeitskrämer
und so voll von bourbonischen Stolze, daß er die napoleonischen Offiziere
bis zur Unverschämtheit taetlos behandelte?

Die Neuformation der Armee war bei dieser Stimmung ein Werk,
welches ebenso große diplomatische Klugheit als sachgemäße Kenntniß, einen
ebenso unbescholtenen Namen als bewährte Energie verlangte. Der König traf
eine glückliche Wahl, indem er den Marschall Gouvion Saint Chr zum
Kriegsminister wählte. Zugleich that man, um den feindlichen Geist der
Armee zu Paralysiren und um sich mit Sicherheit wenigstens auf die Mann¬
schaft einiger Provinzen stützen zu können, einen Schritt, der in der neueren
Heeresgeschichte Frankreichs einzig dasteht: man ging (freilich nur auf kurze
Zeit) zum Territorialsystem über. Die Infanterie-Regimenter wurden
aufgehoben und an ihrer Stelle 94 „Departementallegionen" errichtet, die aus
solchen jungen Leuten zusammengesetzt waren, welche aus ein und demselben
Departement stammten. Diese Organisation gewährte zugleich ein ebenso ein¬
faches als schnellwirkendes Mittel, um die durch die Entlassungen zerstreuten
militärischen Elemente zu gruppiren; sie erleichterte die Wiederherstellung des
Heeres. Natürlich konnten alle so getroffenen Maßregeln nur Palliative sein;
man mußte von vornherein daran denken, die binnen zwei Jahren durch de¬
finitive Verabschiedungen entstehenden Lücken auszufüllen, man mußte mit
einem Wort die Art der Recrutirung gesetzlich feststellen. Diese
Ausgabe war eine außerordentlich schwierige; der General Clarke, Herzog von
Feltre, welcher in Folge politischer Conjuncturen Se. Cyr abgelöst hatte, er¬
wies sich derselben nicht gewachsen, und so ernannte denn Louis XVIII. im
Juli 1817 aufs Neue Se. Eyr und dieser unterzog sich der ihm gewordenen
Aufgabe mit ebensoviel Hingabe wie Glück. — Die Vorurtheile der Partei¬
männer und die Jnstincte der großen Masse waren gegenüber der Frage der
Heeresreorganisation gleich unklar. Viele Konstitutionelle zeigten sich über¬
haupt der Wiederaufrichtung einer permanenten Armee feindlich gesinnt und
betrachteten sie als eine Hemmung der öffentlichen Freiheit; die Masse der
Nation aber verband auf eine höchst wunderliche Weise tiefe Abneigung gegen
die Conscription mit schmerzlichem, anhänglichen Bedauern des „domino 16-
Mnclaire", der mit der Conscription doch einen dem Lande so verhängniß-
vollen Mißbrauch getrieben hatte.

Es gehörte viel Muth dazu, um so verwickelten Verhältnissen gegenüber


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[0442] Bruder des Königs, nicht nur an der Spitze der Nationalgarde, sondern auch an der der jesuitischen Congregation stand? Schien nicht der Herzog von Angouleme nur „der Mann seiner Frau" Marie Therese, welche Napoleon nicht umsonst den einzigen Mann unter den Bourbonen genannt? War nicht der Herzog von Berry ein Paradesoldat, ein launenhafter Kleinigkeitskrämer und so voll von bourbonischen Stolze, daß er die napoleonischen Offiziere bis zur Unverschämtheit taetlos behandelte? Die Neuformation der Armee war bei dieser Stimmung ein Werk, welches ebenso große diplomatische Klugheit als sachgemäße Kenntniß, einen ebenso unbescholtenen Namen als bewährte Energie verlangte. Der König traf eine glückliche Wahl, indem er den Marschall Gouvion Saint Chr zum Kriegsminister wählte. Zugleich that man, um den feindlichen Geist der Armee zu Paralysiren und um sich mit Sicherheit wenigstens auf die Mann¬ schaft einiger Provinzen stützen zu können, einen Schritt, der in der neueren Heeresgeschichte Frankreichs einzig dasteht: man ging (freilich nur auf kurze Zeit) zum Territorialsystem über. Die Infanterie-Regimenter wurden aufgehoben und an ihrer Stelle 94 „Departementallegionen" errichtet, die aus solchen jungen Leuten zusammengesetzt waren, welche aus ein und demselben Departement stammten. Diese Organisation gewährte zugleich ein ebenso ein¬ faches als schnellwirkendes Mittel, um die durch die Entlassungen zerstreuten militärischen Elemente zu gruppiren; sie erleichterte die Wiederherstellung des Heeres. Natürlich konnten alle so getroffenen Maßregeln nur Palliative sein; man mußte von vornherein daran denken, die binnen zwei Jahren durch de¬ finitive Verabschiedungen entstehenden Lücken auszufüllen, man mußte mit einem Wort die Art der Recrutirung gesetzlich feststellen. Diese Ausgabe war eine außerordentlich schwierige; der General Clarke, Herzog von Feltre, welcher in Folge politischer Conjuncturen Se. Cyr abgelöst hatte, er¬ wies sich derselben nicht gewachsen, und so ernannte denn Louis XVIII. im Juli 1817 aufs Neue Se. Eyr und dieser unterzog sich der ihm gewordenen Aufgabe mit ebensoviel Hingabe wie Glück. — Die Vorurtheile der Partei¬ männer und die Jnstincte der großen Masse waren gegenüber der Frage der Heeresreorganisation gleich unklar. Viele Konstitutionelle zeigten sich über¬ haupt der Wiederaufrichtung einer permanenten Armee feindlich gesinnt und betrachteten sie als eine Hemmung der öffentlichen Freiheit; die Masse der Nation aber verband auf eine höchst wunderliche Weise tiefe Abneigung gegen die Conscription mit schmerzlichem, anhänglichen Bedauern des „domino 16- Mnclaire", der mit der Conscription doch einen dem Lande so verhängniß- vollen Mißbrauch getrieben hatte. Es gehörte viel Muth dazu, um so verwickelten Verhältnissen gegenüber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/442>, abgerufen am 22.12.2024.