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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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pariser Iriefe.

Die Hinrichtungen der Communisten in der Ebene von Satory dauern
noch fort. Die Repressiv" des Aufstandes ist eben so zäh und widerwärtig
wie der Aufstand selbst gewesen. Und was hat man gethan um die Wieder¬
holung eines solchen zu beschwören und um die gegründeten Beschwerden des
französischen Volkes, vornehmlich der Pariser Bevölkerung zu berücksichtigen?
-- Gar nichts! Hr. Pereira, der sich unter dem Kaiserthum die größten
Schwindeleien hat zu Schulden kommen lassen, welche die kaiserlichen Richter
nur als "schwere Fehler" gemißbilligt haben, fährt nach wie vor in feinem
Lonx6 rossi-vo auf der Ost-Bahn, und trägt nach wie vor den Orden eines
Officiers der Ehrenlegion im Knopfloche. Und die armen .Schlucker die
seinetwegen um ihr Geld gekommen sind, haben nur das Recht, ihn und
seinen Bruder so wie den seligen Mires zu verfluchen; aber ein französisches
Sprichwort sagt, daß man nur eine Viertelstunde Zeit hat um seinen Richtern
zu fluchen. Die Börsenspiele sind wieder da, ja so flott und colossal wie
jemals, und tragen jetzt sogar die edle Maske des Patriotismus wie bei der
französischen Milliardenanleihe. Und die Gerichte und die Untersuchungs¬
commissionen belehren uns alle Tage, daß die republikanischen Minister und
Beamten nicht besser wie die kaiserlichen mit den Ätaatsgeldern umgegangen
sind. Dagegen harren die Krankenhäuser (ein jedes Bett im Rudel visu soll
der Stadt jährlich 3000 Franken kosten (?)) und die gemeinschaftliche Gruft
der unbemittelten Kranken und der armen Todten.

Sogar in der Kirche muß man für seinen Stuhl zahlen und in
einem fort die Hand in der Börse haben. Denn auch in Frankreich hat
die Kirche den besten Magen. Contributionen unter verschiedenen Benennungen
nehmen jährlich zu. Napoleon I. hat gesagt, daß der Handel ein organisirter
Diebstahl ist, und den Handel seiner Tage, das rohe Schutzzollsystem, bezeichnet
das Wort nicht übel. Und gerade dahin steuert die Politik des Herrn Thiers.
Schon jetzt werden dem Kranken die Arzneimittel 200°/<> zu theuer verkauft,
und wenn man so glücklich ist reinen, wenn auch "verschnittenen" Wein zu er¬
halten , so kann man dagegen darauf zählen, daß die Milch mindestens zur
Hälfte mit Wasser, Kalk oder Mehl vermischt ist. Und wie bald wird sich
die Besteuerung der Rohstoffe in noch größerer Verderbniß und Verschlechte¬
rung aller Lebensbedürfnisse äußern. Wie bald wird uns, nach Beseitigung
der Freihandelsverträge das schutzzöllnerische Monopol unserer Industriellen
brandschatzen, und uns statt der trefflichen Erzeugnisse Englands, Deutschlands,
Belgiens und der Schweiz die elenden Shoddy-Surrogate unsrer braven Lands¬
leute zu enormen Preisen aufnöthigen.

Auch in Betreff der Volksschule ist der "moralische" Zwang des Schul-


pariser Iriefe.

Die Hinrichtungen der Communisten in der Ebene von Satory dauern
noch fort. Die Repressiv» des Aufstandes ist eben so zäh und widerwärtig
wie der Aufstand selbst gewesen. Und was hat man gethan um die Wieder¬
holung eines solchen zu beschwören und um die gegründeten Beschwerden des
französischen Volkes, vornehmlich der Pariser Bevölkerung zu berücksichtigen?
— Gar nichts! Hr. Pereira, der sich unter dem Kaiserthum die größten
Schwindeleien hat zu Schulden kommen lassen, welche die kaiserlichen Richter
nur als „schwere Fehler" gemißbilligt haben, fährt nach wie vor in feinem
Lonx6 rossi-vo auf der Ost-Bahn, und trägt nach wie vor den Orden eines
Officiers der Ehrenlegion im Knopfloche. Und die armen .Schlucker die
seinetwegen um ihr Geld gekommen sind, haben nur das Recht, ihn und
seinen Bruder so wie den seligen Mires zu verfluchen; aber ein französisches
Sprichwort sagt, daß man nur eine Viertelstunde Zeit hat um seinen Richtern
zu fluchen. Die Börsenspiele sind wieder da, ja so flott und colossal wie
jemals, und tragen jetzt sogar die edle Maske des Patriotismus wie bei der
französischen Milliardenanleihe. Und die Gerichte und die Untersuchungs¬
commissionen belehren uns alle Tage, daß die republikanischen Minister und
Beamten nicht besser wie die kaiserlichen mit den Ätaatsgeldern umgegangen
sind. Dagegen harren die Krankenhäuser (ein jedes Bett im Rudel visu soll
der Stadt jährlich 3000 Franken kosten (?)) und die gemeinschaftliche Gruft
der unbemittelten Kranken und der armen Todten.

Sogar in der Kirche muß man für seinen Stuhl zahlen und in
einem fort die Hand in der Börse haben. Denn auch in Frankreich hat
die Kirche den besten Magen. Contributionen unter verschiedenen Benennungen
nehmen jährlich zu. Napoleon I. hat gesagt, daß der Handel ein organisirter
Diebstahl ist, und den Handel seiner Tage, das rohe Schutzzollsystem, bezeichnet
das Wort nicht übel. Und gerade dahin steuert die Politik des Herrn Thiers.
Schon jetzt werden dem Kranken die Arzneimittel 200°/<> zu theuer verkauft,
und wenn man so glücklich ist reinen, wenn auch „verschnittenen" Wein zu er¬
halten , so kann man dagegen darauf zählen, daß die Milch mindestens zur
Hälfte mit Wasser, Kalk oder Mehl vermischt ist. Und wie bald wird sich
die Besteuerung der Rohstoffe in noch größerer Verderbniß und Verschlechte¬
rung aller Lebensbedürfnisse äußern. Wie bald wird uns, nach Beseitigung
der Freihandelsverträge das schutzzöllnerische Monopol unserer Industriellen
brandschatzen, und uns statt der trefflichen Erzeugnisse Englands, Deutschlands,
Belgiens und der Schweiz die elenden Shoddy-Surrogate unsrer braven Lands¬
leute zu enormen Preisen aufnöthigen.

Auch in Betreff der Volksschule ist der „moralische" Zwang des Schul-


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[0388] pariser Iriefe. Die Hinrichtungen der Communisten in der Ebene von Satory dauern noch fort. Die Repressiv» des Aufstandes ist eben so zäh und widerwärtig wie der Aufstand selbst gewesen. Und was hat man gethan um die Wieder¬ holung eines solchen zu beschwören und um die gegründeten Beschwerden des französischen Volkes, vornehmlich der Pariser Bevölkerung zu berücksichtigen? — Gar nichts! Hr. Pereira, der sich unter dem Kaiserthum die größten Schwindeleien hat zu Schulden kommen lassen, welche die kaiserlichen Richter nur als „schwere Fehler" gemißbilligt haben, fährt nach wie vor in feinem Lonx6 rossi-vo auf der Ost-Bahn, und trägt nach wie vor den Orden eines Officiers der Ehrenlegion im Knopfloche. Und die armen .Schlucker die seinetwegen um ihr Geld gekommen sind, haben nur das Recht, ihn und seinen Bruder so wie den seligen Mires zu verfluchen; aber ein französisches Sprichwort sagt, daß man nur eine Viertelstunde Zeit hat um seinen Richtern zu fluchen. Die Börsenspiele sind wieder da, ja so flott und colossal wie jemals, und tragen jetzt sogar die edle Maske des Patriotismus wie bei der französischen Milliardenanleihe. Und die Gerichte und die Untersuchungs¬ commissionen belehren uns alle Tage, daß die republikanischen Minister und Beamten nicht besser wie die kaiserlichen mit den Ätaatsgeldern umgegangen sind. Dagegen harren die Krankenhäuser (ein jedes Bett im Rudel visu soll der Stadt jährlich 3000 Franken kosten (?)) und die gemeinschaftliche Gruft der unbemittelten Kranken und der armen Todten. Sogar in der Kirche muß man für seinen Stuhl zahlen und in einem fort die Hand in der Börse haben. Denn auch in Frankreich hat die Kirche den besten Magen. Contributionen unter verschiedenen Benennungen nehmen jährlich zu. Napoleon I. hat gesagt, daß der Handel ein organisirter Diebstahl ist, und den Handel seiner Tage, das rohe Schutzzollsystem, bezeichnet das Wort nicht übel. Und gerade dahin steuert die Politik des Herrn Thiers. Schon jetzt werden dem Kranken die Arzneimittel 200°/<> zu theuer verkauft, und wenn man so glücklich ist reinen, wenn auch „verschnittenen" Wein zu er¬ halten , so kann man dagegen darauf zählen, daß die Milch mindestens zur Hälfte mit Wasser, Kalk oder Mehl vermischt ist. Und wie bald wird sich die Besteuerung der Rohstoffe in noch größerer Verderbniß und Verschlechte¬ rung aller Lebensbedürfnisse äußern. Wie bald wird uns, nach Beseitigung der Freihandelsverträge das schutzzöllnerische Monopol unserer Industriellen brandschatzen, und uns statt der trefflichen Erzeugnisse Englands, Deutschlands, Belgiens und der Schweiz die elenden Shoddy-Surrogate unsrer braven Lands¬ leute zu enormen Preisen aufnöthigen. Auch in Betreff der Volksschule ist der „moralische" Zwang des Schul-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/388>, abgerufen am 26.06.2024.