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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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Z)er Dichter der Jerner Dorfgeschichten in neuem Kewanoe.

Bald sind es zwanzig Jahre, daß Jeremias Gotthelf die klaren
Augen für immer geschlossen hat. Er ist heimgegangen in tiefster Unzufrieden¬
heit mit dem in Staat und Kirche mächtig hereinbrechenden Liberalismus, der
als das ehrenvollste Denkmal seiner kurzen Alleinherrschaft in der Schweiz
hinterlassen hatte die schweizerische Bundesverfassung und die wohlthätige
Reform der meisten Cantonsverfassungen, und über dessen endlichen Sieg sich
wohl auch Gotthelf, trotz der kurzen schweizerischen Reactionsjahre von 1852
bis 18S6, keiner Täuschung hingegeben hat. Aber dennoch .ist er gestorben
mit der schmerzlichen Ueberzeugung, daß der Geist der neuen Zeit sein geliebtes
Land und Volk ins Verderben stürze. Dieses hippokratische Gesicht, welches
er den besten Wünschen der neuen zählenden Zeit entgegen trug, verkündete
den frühen Tod, der ihm am Herzen nagte. Dieselbe eigensinnige Schwer¬
muth und starre Verdammung Andersdenkender zeigt sich in sehr vielen seiner
Schriften, auch den rein erzählenden, in unangemessener abstoßender Breite.
Ja, was noch schlimmer ist, wer nicht mit uns jene Kämpfe und Leiden¬
schaften durchlebt hat, welche ihn und das Bernerland in jenen Tagen er¬
regten, als er seine heitern und treuen Bilder aus dem Berner Volksleben
mit seinen wehmüthigen Weissagungen über den Verfall der Welt zu durch¬
flechten sich gedrungen fühlte, der versteht heutzutage kaum mehr den Grund
und das Ziel seiner Entrüstung. Die wichtigste Arbeit, die einem Volke be-
schieden sein kann, die friedliche moderne Umbildung seiner Staatsverfassung,
hatte das Schweizervolk damals und heute wieder glücklich und im besten
Geiste vollendet. Und so fern steht das junge Geschlecht, vorschauend in
künftige Tage, dem Standpunkt der Väter, daß der eigene einzige Sohn
des Dichters, Albert Bitzius, heute die freieste kirchliche Richtung der Schweiz
führt -- und dennoch in politischer Hinsicht weit entfernt ist von denen, die^
da "theilen" wollen. --

Aber diese Fehler des Politikers Jeremias Gotthelf haben niemals, und
auch beim deutschen Publicum nirgends zu verdunkeln vermocht die großen
Vorzüge, die ihm und seinen Werken als köstliche Eigenart gegeben waren:
die kleine Welt des Berner Dorfes und Gebirgslebens, der Cultur und
Wirthschaft, der Freuden und Leiden, der Thorheiten, Hoffnungen und Stre¬
bungen aller Stände seiner Mitbürger in Stadt und Land mit größter Treue,
mit einer Fülle von Humor und der herzlichsten Theilnahme zu schildern und
abzubilden. Manches mag uns zu realistisch und zu derb erscheinen für den
modernen Salon, manchmal mag uns der Faden der Erzählung zu lose die
einzelnen Bilder und Schilderungen verknüpfen; aber die unverfälschten Natur¬
menschen und Naturscenen, die Gotthelf uns bietet, sind rein aus der Volks-


Z)er Dichter der Jerner Dorfgeschichten in neuem Kewanoe.

Bald sind es zwanzig Jahre, daß Jeremias Gotthelf die klaren
Augen für immer geschlossen hat. Er ist heimgegangen in tiefster Unzufrieden¬
heit mit dem in Staat und Kirche mächtig hereinbrechenden Liberalismus, der
als das ehrenvollste Denkmal seiner kurzen Alleinherrschaft in der Schweiz
hinterlassen hatte die schweizerische Bundesverfassung und die wohlthätige
Reform der meisten Cantonsverfassungen, und über dessen endlichen Sieg sich
wohl auch Gotthelf, trotz der kurzen schweizerischen Reactionsjahre von 1852
bis 18S6, keiner Täuschung hingegeben hat. Aber dennoch .ist er gestorben
mit der schmerzlichen Ueberzeugung, daß der Geist der neuen Zeit sein geliebtes
Land und Volk ins Verderben stürze. Dieses hippokratische Gesicht, welches
er den besten Wünschen der neuen zählenden Zeit entgegen trug, verkündete
den frühen Tod, der ihm am Herzen nagte. Dieselbe eigensinnige Schwer¬
muth und starre Verdammung Andersdenkender zeigt sich in sehr vielen seiner
Schriften, auch den rein erzählenden, in unangemessener abstoßender Breite.
Ja, was noch schlimmer ist, wer nicht mit uns jene Kämpfe und Leiden¬
schaften durchlebt hat, welche ihn und das Bernerland in jenen Tagen er¬
regten, als er seine heitern und treuen Bilder aus dem Berner Volksleben
mit seinen wehmüthigen Weissagungen über den Verfall der Welt zu durch¬
flechten sich gedrungen fühlte, der versteht heutzutage kaum mehr den Grund
und das Ziel seiner Entrüstung. Die wichtigste Arbeit, die einem Volke be-
schieden sein kann, die friedliche moderne Umbildung seiner Staatsverfassung,
hatte das Schweizervolk damals und heute wieder glücklich und im besten
Geiste vollendet. Und so fern steht das junge Geschlecht, vorschauend in
künftige Tage, dem Standpunkt der Väter, daß der eigene einzige Sohn
des Dichters, Albert Bitzius, heute die freieste kirchliche Richtung der Schweiz
führt — und dennoch in politischer Hinsicht weit entfernt ist von denen, die^
da „theilen" wollen. —

Aber diese Fehler des Politikers Jeremias Gotthelf haben niemals, und
auch beim deutschen Publicum nirgends zu verdunkeln vermocht die großen
Vorzüge, die ihm und seinen Werken als köstliche Eigenart gegeben waren:
die kleine Welt des Berner Dorfes und Gebirgslebens, der Cultur und
Wirthschaft, der Freuden und Leiden, der Thorheiten, Hoffnungen und Stre¬
bungen aller Stände seiner Mitbürger in Stadt und Land mit größter Treue,
mit einer Fülle von Humor und der herzlichsten Theilnahme zu schildern und
abzubilden. Manches mag uns zu realistisch und zu derb erscheinen für den
modernen Salon, manchmal mag uns der Faden der Erzählung zu lose die
einzelnen Bilder und Schilderungen verknüpfen; aber die unverfälschten Natur¬
menschen und Naturscenen, die Gotthelf uns bietet, sind rein aus der Volks-


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[0166] Z)er Dichter der Jerner Dorfgeschichten in neuem Kewanoe. Bald sind es zwanzig Jahre, daß Jeremias Gotthelf die klaren Augen für immer geschlossen hat. Er ist heimgegangen in tiefster Unzufrieden¬ heit mit dem in Staat und Kirche mächtig hereinbrechenden Liberalismus, der als das ehrenvollste Denkmal seiner kurzen Alleinherrschaft in der Schweiz hinterlassen hatte die schweizerische Bundesverfassung und die wohlthätige Reform der meisten Cantonsverfassungen, und über dessen endlichen Sieg sich wohl auch Gotthelf, trotz der kurzen schweizerischen Reactionsjahre von 1852 bis 18S6, keiner Täuschung hingegeben hat. Aber dennoch .ist er gestorben mit der schmerzlichen Ueberzeugung, daß der Geist der neuen Zeit sein geliebtes Land und Volk ins Verderben stürze. Dieses hippokratische Gesicht, welches er den besten Wünschen der neuen zählenden Zeit entgegen trug, verkündete den frühen Tod, der ihm am Herzen nagte. Dieselbe eigensinnige Schwer¬ muth und starre Verdammung Andersdenkender zeigt sich in sehr vielen seiner Schriften, auch den rein erzählenden, in unangemessener abstoßender Breite. Ja, was noch schlimmer ist, wer nicht mit uns jene Kämpfe und Leiden¬ schaften durchlebt hat, welche ihn und das Bernerland in jenen Tagen er¬ regten, als er seine heitern und treuen Bilder aus dem Berner Volksleben mit seinen wehmüthigen Weissagungen über den Verfall der Welt zu durch¬ flechten sich gedrungen fühlte, der versteht heutzutage kaum mehr den Grund und das Ziel seiner Entrüstung. Die wichtigste Arbeit, die einem Volke be- schieden sein kann, die friedliche moderne Umbildung seiner Staatsverfassung, hatte das Schweizervolk damals und heute wieder glücklich und im besten Geiste vollendet. Und so fern steht das junge Geschlecht, vorschauend in künftige Tage, dem Standpunkt der Väter, daß der eigene einzige Sohn des Dichters, Albert Bitzius, heute die freieste kirchliche Richtung der Schweiz führt — und dennoch in politischer Hinsicht weit entfernt ist von denen, die^ da „theilen" wollen. — Aber diese Fehler des Politikers Jeremias Gotthelf haben niemals, und auch beim deutschen Publicum nirgends zu verdunkeln vermocht die großen Vorzüge, die ihm und seinen Werken als köstliche Eigenart gegeben waren: die kleine Welt des Berner Dorfes und Gebirgslebens, der Cultur und Wirthschaft, der Freuden und Leiden, der Thorheiten, Hoffnungen und Stre¬ bungen aller Stände seiner Mitbürger in Stadt und Land mit größter Treue, mit einer Fülle von Humor und der herzlichsten Theilnahme zu schildern und abzubilden. Manches mag uns zu realistisch und zu derb erscheinen für den modernen Salon, manchmal mag uns der Faden der Erzählung zu lose die einzelnen Bilder und Schilderungen verknüpfen; aber die unverfälschten Natur¬ menschen und Naturscenen, die Gotthelf uns bietet, sind rein aus der Volks-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/166>, abgerufen am 03.07.2024.