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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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lichkeit des Morgens, wo kein andrer Ton als das Gezwitscher der Vögel
im Garten das Schweigen brach, mit der leidenschaftlichen Selbstanklage und
Entrüstung zu vergleichen, die mit dem Tage losbrechen würde. Vielleicht
waren die Bewohner der Zimmer so wach wie ich selbst. Aber das Haus in
seiner Stille war ganz so, wie es gewöhnlich war, wenn ich allein von Bällen
oder Gesellschaften in den glücklichen Tagen der Vergangenheit heimkehrte.

So müde ich war, konnte ich doch nicht schlafen, und so ging ich nach
dem Flusse hinab und schwamm eine Weile. Bei der Rückkunft fand ich den
Haushalt im Begriff, sich zu einem frühzeitigen Morgenmahl zu versammeln.
Es war ein kummervoller Haushalt, obwohl die Last, die jeden drückte, theil¬
weise nicht zu sehen war. Mein Vater, in Zweifeln, ob seine Firma den
Tag noch aushalten würde, meine Mutter, deren Sorge um meinen Bruder,
der jetzt mit seinem Regiment an der Küste stand, bereits ihren Schmerz
über das Unglück des Vaterlandes überwog, war heruntergekommen, obwohl
sie kaum im Stande war, ihre Stube zu verlassen. Meine Schwester Clara
befand sich am Uebelsten; denn sie war nicht einmal sähig zu dem Versuch,
ihr besonderes Interesse an der Flotte zu verbergen, und obwohl wir alle
errathen hatten, daß ihr Herz dem jungen Leutnant auf dem Flaggenschiffe
gehörte -- dem ersten, welches untergegangen war -- konnte sie ihre un-
erwiederte Liebe doch nicht aussprechen, und wir konnten ebensowenig unser
Mitgefühl für das atme Mädchen äußern. Dieses Frühstück, das letzte Mahl,
welches wir zusammen genossen, war bald beendigt, und mein Vater und ich
gingen mit einem Frühzuge nach der Stadt und kamen dort gerade an, als
die verhängnißvolle Anzeige von dem Verluste der Flotte von Portsmouth
telegraphirt wurde.




Jerüner Iriefe.

Wessen das Herz voll ist. des fließt der Mund über, und wovon heute
die ganze Stadt spricht, das darf ich als gewissenhafter Chronist nicht igno-
riren, wenn es auch nicht so recht in meine sonstige Sphäre der Berichte!
Stallung gehören mag. Besorgen Sie nicht, daß ich von den Peripetien des
Giftmordprocesses der Wittwe Böllert und ihrer Freisprechung zu erzählen be¬
ginnen werde, mich lockt zunächst ein edler Wild.

In der vorgestrigen Reichstagssitzung zeigte sich die erste oppositionelle-
Sturmfluth der liberalen Mehrheit gegenüber dem Bundesrathe, dessen preu¬
ßischen Vertretern mindestens doch sonst gern und willig das Ohr dieser
Majorität gehörte. Die Fluth mit ihrem Brausen und Brander war um
so bemerkenswerther, als sich ihr der sonst so vorsichtig-praktische Präsident
Delbrück allein entgegenstemmte und die Wellen rings um sich spülen und
schäumen ließ, ein einsamer Fels im Meere, seiner Stärke sich wohlbewußt.
Bei den Lesern der Grenzboten darf man die Kenntniß der Vorgänge vor¬
aussetzen. Zwei Hamburger Postsecretäre, welche um Gehaltszulage petitionirr
hatten, waren, der Eine nach der Strafkolonie Ostpreußen, der andere in ein
entlegenes Städtchen am Rhein versetzt, oder wie die anklagenden Abgeord¬
neten Banks und Genossen sagten, "strafversetzt" worden. Nun aber geschah
das Komische: diese Staatsanwälte der öffentlichen Meinung formulirten ihre
Fragen und Beschwerden auf das Ungeschickteste, so daß die in Schutz ge-


lichkeit des Morgens, wo kein andrer Ton als das Gezwitscher der Vögel
im Garten das Schweigen brach, mit der leidenschaftlichen Selbstanklage und
Entrüstung zu vergleichen, die mit dem Tage losbrechen würde. Vielleicht
waren die Bewohner der Zimmer so wach wie ich selbst. Aber das Haus in
seiner Stille war ganz so, wie es gewöhnlich war, wenn ich allein von Bällen
oder Gesellschaften in den glücklichen Tagen der Vergangenheit heimkehrte.

So müde ich war, konnte ich doch nicht schlafen, und so ging ich nach
dem Flusse hinab und schwamm eine Weile. Bei der Rückkunft fand ich den
Haushalt im Begriff, sich zu einem frühzeitigen Morgenmahl zu versammeln.
Es war ein kummervoller Haushalt, obwohl die Last, die jeden drückte, theil¬
weise nicht zu sehen war. Mein Vater, in Zweifeln, ob seine Firma den
Tag noch aushalten würde, meine Mutter, deren Sorge um meinen Bruder,
der jetzt mit seinem Regiment an der Küste stand, bereits ihren Schmerz
über das Unglück des Vaterlandes überwog, war heruntergekommen, obwohl
sie kaum im Stande war, ihre Stube zu verlassen. Meine Schwester Clara
befand sich am Uebelsten; denn sie war nicht einmal sähig zu dem Versuch,
ihr besonderes Interesse an der Flotte zu verbergen, und obwohl wir alle
errathen hatten, daß ihr Herz dem jungen Leutnant auf dem Flaggenschiffe
gehörte — dem ersten, welches untergegangen war — konnte sie ihre un-
erwiederte Liebe doch nicht aussprechen, und wir konnten ebensowenig unser
Mitgefühl für das atme Mädchen äußern. Dieses Frühstück, das letzte Mahl,
welches wir zusammen genossen, war bald beendigt, und mein Vater und ich
gingen mit einem Frühzuge nach der Stadt und kamen dort gerade an, als
die verhängnißvolle Anzeige von dem Verluste der Flotte von Portsmouth
telegraphirt wurde.




Jerüner Iriefe.

Wessen das Herz voll ist. des fließt der Mund über, und wovon heute
die ganze Stadt spricht, das darf ich als gewissenhafter Chronist nicht igno-
riren, wenn es auch nicht so recht in meine sonstige Sphäre der Berichte!
Stallung gehören mag. Besorgen Sie nicht, daß ich von den Peripetien des
Giftmordprocesses der Wittwe Böllert und ihrer Freisprechung zu erzählen be¬
ginnen werde, mich lockt zunächst ein edler Wild.

In der vorgestrigen Reichstagssitzung zeigte sich die erste oppositionelle-
Sturmfluth der liberalen Mehrheit gegenüber dem Bundesrathe, dessen preu¬
ßischen Vertretern mindestens doch sonst gern und willig das Ohr dieser
Majorität gehörte. Die Fluth mit ihrem Brausen und Brander war um
so bemerkenswerther, als sich ihr der sonst so vorsichtig-praktische Präsident
Delbrück allein entgegenstemmte und die Wellen rings um sich spülen und
schäumen ließ, ein einsamer Fels im Meere, seiner Stärke sich wohlbewußt.
Bei den Lesern der Grenzboten darf man die Kenntniß der Vorgänge vor¬
aussetzen. Zwei Hamburger Postsecretäre, welche um Gehaltszulage petitionirr
hatten, waren, der Eine nach der Strafkolonie Ostpreußen, der andere in ein
entlegenes Städtchen am Rhein versetzt, oder wie die anklagenden Abgeord¬
neten Banks und Genossen sagten, „strafversetzt" worden. Nun aber geschah
das Komische: diese Staatsanwälte der öffentlichen Meinung formulirten ihre
Fragen und Beschwerden auf das Ungeschickteste, so daß die in Schutz ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/363>, abgerufen am 27.12.2024.