Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.Dom deutschen Aeichstag. In meinem Brief vom 31. März sagte ich: "es liegen gewichtige An¬ Es ist wohl der Mühe werth, den Gründen nachzugehen, welche den In dem Brief vom 31. März hatte ich darauf hingewiesen, daß man Man vergegenwärtige sich, auf welchen Elementen die centrifugale Sprö- Dom deutschen Aeichstag. In meinem Brief vom 31. März sagte ich: „es liegen gewichtige An¬ Es ist wohl der Mühe werth, den Gründen nachzugehen, welche den In dem Brief vom 31. März hatte ich darauf hingewiesen, daß man Man vergegenwärtige sich, auf welchen Elementen die centrifugale Sprö- <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0198" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/125980"/> </div> <div n="1"> <head> Dom deutschen Aeichstag.</head><lb/> <p xml:id="ID_632"> In meinem Brief vom 31. März sagte ich: „es liegen gewichtige An¬<lb/> zeichen vor, daß niemand Geringeres als der Reichskanzler für jetzt den Ge¬<lb/> danken verfolgt, die Pluralistische Executive durch Schaffung einer einheitlichen<lb/> Tradition in derselben lebensfähig zu machen." Dieser Ausspruch hat durch<lb/> die Reichstagsverhandlung vom 19. April eine starke Bestätigung erhalten.<lb/> In den Worten, welche der Reichskanzler am Schluß dieser Sitzung sprach,<lb/> gab er nachdrücklicher als je bisher zu erkennen, welchen Werth er aus diese<lb/> „sehr glücklich gefundene Institution des Bundesrathes" legt. Er ging so<lb/> weit, jede Neuerung, welche diese Institution schwächt, für „sehr bedenklich"<lb/> zu erklären. Die auffälligste Bestätigung der damals hier gegebenen Aus¬<lb/> führung liegt aber in dem Satze: „ich glaube der Bundesrath hat eine große<lb/> Zukunft, indem er zum erstenmal den Versuch macht, den Bundesstaat auch<lb/> in seiner höchsten Spitze als ein föderatives Collegium sich einigen zu lassen,<lb/> um die Souveränität des Reiches zu üben; denn die Souveränität ruht nicht<lb/> beim Kaiser, sie ruht bei der Gesammtheit der verbündeten Regierungen." Mit<lb/> der Mahnung „tasten Sie dieses Palladium unserer Zukunft nicht an," schloß<lb/> der Kanzler.</p><lb/> <p xml:id="ID_633"> Es ist wohl der Mühe werth, den Gründen nachzugehen, welche den<lb/> Gedanken dieser Institution in dem Kanzler geweckt haben und ihn, nachdem<lb/> er den Ausführungsmodus glücklich gefunden, so beharrlich an dem Glauben<lb/> in die Lebensfähigkeit dieses Organes festhalten lassen. Vorliebe für republi¬<lb/> kanische Formen wird Niemand bei dem Fürsten Bismarck suchen, obwohl es<lb/> ein Zeichen seiner beispiellosen Vorurtheillosigkeit und seines gewohnten Muthes<lb/> ist, daß er den Gedanken der pluralistischen Executive als einen republikani¬<lb/> schen erkennt und bekennt.</p><lb/> <p xml:id="ID_634"> In dem Brief vom 31. März hatte ich darauf hingewiesen, daß man<lb/> Gegner der pluralistischen Executive sein könne und darum doch kein wahrer<lb/> Freund der Neichseinheit zu sein brauche. So wird man auch gut thun, in<lb/> der Anhänglichkeit an die Institution des Bundesrathes kein Zeichen des<lb/> Particularismus zu suchen. Diese Institution ist vielleicht das genial gefun¬<lb/> dene Mittel, zugleich am wirksamsten und am leichtesten die schädlichen Seiten<lb/> des Particularismus zu überwinden.</p><lb/> <p xml:id="ID_635" next="#ID_636"> Man vergegenwärtige sich, auf welchen Elementen die centrifugale Sprö-<lb/> digkeit der Einzelstaaten in neuester Zeit beruht hat. Diese Elemente waren<lb/> weniger verschieden von Staat zu Staat, als untereinander verschieden in<lb/> einem und demselben Staat. Es waren die folgenden: 1) dynastischer Hoch¬<lb/> muth; 2) das auf die eigne Erfahrung und das eigne Können ausschließlich</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0198]
Dom deutschen Aeichstag.
In meinem Brief vom 31. März sagte ich: „es liegen gewichtige An¬
zeichen vor, daß niemand Geringeres als der Reichskanzler für jetzt den Ge¬
danken verfolgt, die Pluralistische Executive durch Schaffung einer einheitlichen
Tradition in derselben lebensfähig zu machen." Dieser Ausspruch hat durch
die Reichstagsverhandlung vom 19. April eine starke Bestätigung erhalten.
In den Worten, welche der Reichskanzler am Schluß dieser Sitzung sprach,
gab er nachdrücklicher als je bisher zu erkennen, welchen Werth er aus diese
„sehr glücklich gefundene Institution des Bundesrathes" legt. Er ging so
weit, jede Neuerung, welche diese Institution schwächt, für „sehr bedenklich"
zu erklären. Die auffälligste Bestätigung der damals hier gegebenen Aus¬
führung liegt aber in dem Satze: „ich glaube der Bundesrath hat eine große
Zukunft, indem er zum erstenmal den Versuch macht, den Bundesstaat auch
in seiner höchsten Spitze als ein föderatives Collegium sich einigen zu lassen,
um die Souveränität des Reiches zu üben; denn die Souveränität ruht nicht
beim Kaiser, sie ruht bei der Gesammtheit der verbündeten Regierungen." Mit
der Mahnung „tasten Sie dieses Palladium unserer Zukunft nicht an," schloß
der Kanzler.
Es ist wohl der Mühe werth, den Gründen nachzugehen, welche den
Gedanken dieser Institution in dem Kanzler geweckt haben und ihn, nachdem
er den Ausführungsmodus glücklich gefunden, so beharrlich an dem Glauben
in die Lebensfähigkeit dieses Organes festhalten lassen. Vorliebe für republi¬
kanische Formen wird Niemand bei dem Fürsten Bismarck suchen, obwohl es
ein Zeichen seiner beispiellosen Vorurtheillosigkeit und seines gewohnten Muthes
ist, daß er den Gedanken der pluralistischen Executive als einen republikani¬
schen erkennt und bekennt.
In dem Brief vom 31. März hatte ich darauf hingewiesen, daß man
Gegner der pluralistischen Executive sein könne und darum doch kein wahrer
Freund der Neichseinheit zu sein brauche. So wird man auch gut thun, in
der Anhänglichkeit an die Institution des Bundesrathes kein Zeichen des
Particularismus zu suchen. Diese Institution ist vielleicht das genial gefun¬
dene Mittel, zugleich am wirksamsten und am leichtesten die schädlichen Seiten
des Particularismus zu überwinden.
Man vergegenwärtige sich, auf welchen Elementen die centrifugale Sprö-
digkeit der Einzelstaaten in neuester Zeit beruht hat. Diese Elemente waren
weniger verschieden von Staat zu Staat, als untereinander verschieden in
einem und demselben Staat. Es waren die folgenden: 1) dynastischer Hoch¬
muth; 2) das auf die eigne Erfahrung und das eigne Können ausschließlich
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