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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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Iried e.

V Wann wird jemals der keimende Frühling aufhören von frohen Menschen
besungen und gefeiert zu werden? Niemals, so lange laue Winde den strengen
Frost ablösen, geborstene Eisschollen thalabwärts treiben, die Sonne Macht
gewinnt, und der weite Plan der Felder sich grün kleidet. Selten hat der Früh¬
ling länger gezaudert mit seiner Einkehr bei uns in Mitteldeutschland als
dieses Jahr. In den Wochen, wo wir sonst Schneeglöckchen brachen, lagen
unsere Ebenen und Höhen noch tief unter Schnee und Eis. Mit einem Male,
wie mit einem Zauberschlag, ist diesmal der Frühling ins Land gegangen,
nach Stunden fast schied sich die milde Jahreszeit von der strengen am letzten
Sonntag des Februar. Nieder sanken die Nebel vor den wärmeren Strahlen
der steigenden Sonne. Tausende entrannen der winterlichen Knechtschaft des
Hauses und suchten im Freien die reinere Luft, die freudige, leichte Bewegung.
Aber eine ernstere, weihevollere Stimmung lag heut auf der Menge, als sonst
bei der fröhlichen Wiedergeburt der sonnigen Tage. Man kürzte diesmal
eilend den sonntäglichen Spaziergang und strebte zur Stadt zurück, an die
Quelle der elektrischen Botschaften. Denn in der Luft lag die Gewißheit
des Friedens, nach langem heißen blutigen Kriege jede Stunde konnte die
feierliche Bestätigung bringen, durch den theuren Namen des greisen kaiser¬
lichen Kriegsherrn verbürgt, der den Deutschen über den Frieden gebietet, wie
über den Krieg. -- Doch der Sonntag sank hinab ohne die Bestätigung.
Auch Diejenigen, welche die Mitternacht erwarteten, wo die Waffenruhe ablief,
und von Neuem der Krieg in sein Recht treten sollte, mußten die Ruhe suchen
ohne Friedensbotschaft. Nicht ohne Bangen und Sorge begab sich am
Montag das deutsche Volk an seine Werktagsarbeit. Waren in der letzten
Stunde noch die Friedensverhandlungen gescheitert? Mußte nun wirklich
von Neuem unabsehbar die blutige Arbeit beginnen? Der Racenkrieg, wie
die unbelehrbarsten unserer Feinde verkündeten? Wenig Andacht blieb den
Deutschen für ihre Alltagsgeschäfte, ehe diese ernste Frage gelöst war. Die
Straßen waren bevölkerter ials sonst, dichte Gruppen umdrängten das Telegra¬
phenamt, das Rathhaus.


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Iried e.

V Wann wird jemals der keimende Frühling aufhören von frohen Menschen
besungen und gefeiert zu werden? Niemals, so lange laue Winde den strengen
Frost ablösen, geborstene Eisschollen thalabwärts treiben, die Sonne Macht
gewinnt, und der weite Plan der Felder sich grün kleidet. Selten hat der Früh¬
ling länger gezaudert mit seiner Einkehr bei uns in Mitteldeutschland als
dieses Jahr. In den Wochen, wo wir sonst Schneeglöckchen brachen, lagen
unsere Ebenen und Höhen noch tief unter Schnee und Eis. Mit einem Male,
wie mit einem Zauberschlag, ist diesmal der Frühling ins Land gegangen,
nach Stunden fast schied sich die milde Jahreszeit von der strengen am letzten
Sonntag des Februar. Nieder sanken die Nebel vor den wärmeren Strahlen
der steigenden Sonne. Tausende entrannen der winterlichen Knechtschaft des
Hauses und suchten im Freien die reinere Luft, die freudige, leichte Bewegung.
Aber eine ernstere, weihevollere Stimmung lag heut auf der Menge, als sonst
bei der fröhlichen Wiedergeburt der sonnigen Tage. Man kürzte diesmal
eilend den sonntäglichen Spaziergang und strebte zur Stadt zurück, an die
Quelle der elektrischen Botschaften. Denn in der Luft lag die Gewißheit
des Friedens, nach langem heißen blutigen Kriege jede Stunde konnte die
feierliche Bestätigung bringen, durch den theuren Namen des greisen kaiser¬
lichen Kriegsherrn verbürgt, der den Deutschen über den Frieden gebietet, wie
über den Krieg. — Doch der Sonntag sank hinab ohne die Bestätigung.
Auch Diejenigen, welche die Mitternacht erwarteten, wo die Waffenruhe ablief,
und von Neuem der Krieg in sein Recht treten sollte, mußten die Ruhe suchen
ohne Friedensbotschaft. Nicht ohne Bangen und Sorge begab sich am
Montag das deutsche Volk an seine Werktagsarbeit. Waren in der letzten
Stunde noch die Friedensverhandlungen gescheitert? Mußte nun wirklich
von Neuem unabsehbar die blutige Arbeit beginnen? Der Racenkrieg, wie
die unbelehrbarsten unserer Feinde verkündeten? Wenig Andacht blieb den
Deutschen für ihre Alltagsgeschäfte, ehe diese ernste Frage gelöst war. Die
Straßen waren bevölkerter ials sonst, dichte Gruppen umdrängten das Telegra¬
phenamt, das Rathhaus.


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[0373] Iried e. V Wann wird jemals der keimende Frühling aufhören von frohen Menschen besungen und gefeiert zu werden? Niemals, so lange laue Winde den strengen Frost ablösen, geborstene Eisschollen thalabwärts treiben, die Sonne Macht gewinnt, und der weite Plan der Felder sich grün kleidet. Selten hat der Früh¬ ling länger gezaudert mit seiner Einkehr bei uns in Mitteldeutschland als dieses Jahr. In den Wochen, wo wir sonst Schneeglöckchen brachen, lagen unsere Ebenen und Höhen noch tief unter Schnee und Eis. Mit einem Male, wie mit einem Zauberschlag, ist diesmal der Frühling ins Land gegangen, nach Stunden fast schied sich die milde Jahreszeit von der strengen am letzten Sonntag des Februar. Nieder sanken die Nebel vor den wärmeren Strahlen der steigenden Sonne. Tausende entrannen der winterlichen Knechtschaft des Hauses und suchten im Freien die reinere Luft, die freudige, leichte Bewegung. Aber eine ernstere, weihevollere Stimmung lag heut auf der Menge, als sonst bei der fröhlichen Wiedergeburt der sonnigen Tage. Man kürzte diesmal eilend den sonntäglichen Spaziergang und strebte zur Stadt zurück, an die Quelle der elektrischen Botschaften. Denn in der Luft lag die Gewißheit des Friedens, nach langem heißen blutigen Kriege jede Stunde konnte die feierliche Bestätigung bringen, durch den theuren Namen des greisen kaiser¬ lichen Kriegsherrn verbürgt, der den Deutschen über den Frieden gebietet, wie über den Krieg. — Doch der Sonntag sank hinab ohne die Bestätigung. Auch Diejenigen, welche die Mitternacht erwarteten, wo die Waffenruhe ablief, und von Neuem der Krieg in sein Recht treten sollte, mußten die Ruhe suchen ohne Friedensbotschaft. Nicht ohne Bangen und Sorge begab sich am Montag das deutsche Volk an seine Werktagsarbeit. Waren in der letzten Stunde noch die Friedensverhandlungen gescheitert? Mußte nun wirklich von Neuem unabsehbar die blutige Arbeit beginnen? Der Racenkrieg, wie die unbelehrbarsten unserer Feinde verkündeten? Wenig Andacht blieb den Deutschen für ihre Alltagsgeschäfte, ehe diese ernste Frage gelöst war. Die Straßen waren bevölkerter ials sonst, dichte Gruppen umdrängten das Telegra¬ phenamt, das Rathhaus. 47

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/373>, abgerufen am 22.07.2024.