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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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Dann ward's den Schmausenden von Herzen wohl,
Und Manchem kam der ketzerische Gedanke:
Ein Vogel ans der Schüssel sei am Ende
Noch vorzuziehn dem Vogel hoch im Blauen --
Und von der Sonne schied man voll von Trosts).

Wodan im Hügel.

Man sieht: an den Jahresgott Wodan knüpfen sich die verschiedenartig¬
sten Gestalten! Bon den ernsten Todesgöttern zu der lichten Heldengestalt
des Drachentvdters, von der dämonischen Macht des wilden Jägers bis zu
dem in einigen Zügen ans Burleske streifenden Zecherfürsten Se. Martin --
immer geht man in ein und desselben Gottes Geleite, ja man verehrt ihn
sogar in seiner primitivsten Form als awsa, als "wehenden Hauch", als
den "Wind, das himmlische Kind" noch in unseren Tagen und selbst ge¬
opfert wird ihm als solchem noch heut. Um ihn freundlich zu erhalten "füt¬
tert" man in Kärnten den Wind, indem man eine hölzerne Schaale mit ver¬
schiedenen Speisen auf einen Baum stellt und Heu in die Luft wirft, als
Wegzehrung für den Windreiter und für Windreiters Roß. In anderen Ge¬
genden, z. B. in Schwaben, wirft man ihm eine Handvoll Mehl entgegen
mit dem Ausruf: "Da Wind, hast Du Mehl für Dein Kind; aber aufhören
mußt Du!" und so sucht man in erstaunlich alterthümlicher und kindlicher
Meise den Gott im Elemente zu beschwichtigen. -- Aber neben diesen rück¬
ständigen, naivsten Vorstellungen entwickelten sich die erhabensten und um-



') Sehr scherzhaft sind die Versuche, welche gemacht find, um die Martinsgans christlich
zu deuten. Einige dieser Berichte melden, der Heilige sei durch Gänse im Predigen gestört
worden; andere wolle", Martin habe sich, als er noch sehr jung zum Bischof gewählt worden,
aus Bescheidenheit im Gänsestallc versteckt, sei jedoch durch das Geschuntter der Vögel verrathen
und gefunden worden. Hierauf spielt eine Einladung zur Martinsgans in "des Knaben
Wunderhorn" an:
Wann der heilige Se. Martin
''
Will der Bischvfschr cntfliehn,
Sitzt er in dem Gänsestall,
'
Niemand findt ihn überall,
Bis der Gänse groß Geschrei
Seine Sucher führt herbei. --
Nun dieweil das Gickgackslied
i
Diesen heilgen Mann verrieth,
Dafür thut am Martinstag
Man den Gänsen diese Plag',
Daß ein strenges Todesrecht
'
Gehn muß über ihr Geschlecht.
Eine nicht minder drollige Erklärung versucht die Verbindung des Bischofs mit der Gans
davon herzuleiten, daß bei der Beerdigung des Heiligen, am 11. November 402, die stattliche
Anzahl von 20""" Mönche" zugegen gewesen seien, und bei dieser Gelegenheit eine ungeheure
Anzahl von Gänsen aufgezehrt'hätten.
Dann ward's den Schmausenden von Herzen wohl,
Und Manchem kam der ketzerische Gedanke:
Ein Vogel ans der Schüssel sei am Ende
Noch vorzuziehn dem Vogel hoch im Blauen —
Und von der Sonne schied man voll von Trosts).

Wodan im Hügel.

Man sieht: an den Jahresgott Wodan knüpfen sich die verschiedenartig¬
sten Gestalten! Bon den ernsten Todesgöttern zu der lichten Heldengestalt
des Drachentvdters, von der dämonischen Macht des wilden Jägers bis zu
dem in einigen Zügen ans Burleske streifenden Zecherfürsten Se. Martin —
immer geht man in ein und desselben Gottes Geleite, ja man verehrt ihn
sogar in seiner primitivsten Form als awsa, als „wehenden Hauch", als
den „Wind, das himmlische Kind" noch in unseren Tagen und selbst ge¬
opfert wird ihm als solchem noch heut. Um ihn freundlich zu erhalten „füt¬
tert" man in Kärnten den Wind, indem man eine hölzerne Schaale mit ver¬
schiedenen Speisen auf einen Baum stellt und Heu in die Luft wirft, als
Wegzehrung für den Windreiter und für Windreiters Roß. In anderen Ge¬
genden, z. B. in Schwaben, wirft man ihm eine Handvoll Mehl entgegen
mit dem Ausruf: „Da Wind, hast Du Mehl für Dein Kind; aber aufhören
mußt Du!" und so sucht man in erstaunlich alterthümlicher und kindlicher
Meise den Gott im Elemente zu beschwichtigen. — Aber neben diesen rück¬
ständigen, naivsten Vorstellungen entwickelten sich die erhabensten und um-



') Sehr scherzhaft sind die Versuche, welche gemacht find, um die Martinsgans christlich
zu deuten. Einige dieser Berichte melden, der Heilige sei durch Gänse im Predigen gestört
worden; andere wolle», Martin habe sich, als er noch sehr jung zum Bischof gewählt worden,
aus Bescheidenheit im Gänsestallc versteckt, sei jedoch durch das Geschuntter der Vögel verrathen
und gefunden worden. Hierauf spielt eine Einladung zur Martinsgans in „des Knaben
Wunderhorn" an:
Wann der heilige Se. Martin
''
Will der Bischvfschr cntfliehn,
Sitzt er in dem Gänsestall,
'
Niemand findt ihn überall,
Bis der Gänse groß Geschrei
Seine Sucher führt herbei. —
Nun dieweil das Gickgackslied
i
Diesen heilgen Mann verrieth,
Dafür thut am Martinstag
Man den Gänsen diese Plag',
Daß ein strenges Todesrecht
'
Gehn muß über ihr Geschlecht.
Eine nicht minder drollige Erklärung versucht die Verbindung des Bischofs mit der Gans
davon herzuleiten, daß bei der Beerdigung des Heiligen, am 11. November 402, die stattliche
Anzahl von 20«»» Mönche» zugegen gewesen seien, und bei dieser Gelegenheit eine ungeheure
Anzahl von Gänsen aufgezehrt'hätten.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/311>, abgerufen am 28.06.2024.