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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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als eine seiner Aufgaben zu bezeichnen. Wie manches ist in Deutschland
trotz aller Beihilfe der Staaten, Provinzen und großen Stadtgemeinden,
trotz der Opferwilligkeit vieler Bürger auf dem geistigen Gebiete zu schaffen,
was durch ein großes Staatswesen geschaffen werden kann und geschaffen
werden soll!

Die neue deutsche Bundesverfassung wird die Erwartungen Vieler nicht
erfüllen, aber sicher wie die norddeutsche in Wirklichkeit mehr gewähren als
sie von vorn herein gewähren zu können scheint. Begründet sie ein deutsches
Staatswesen, das entwickelungs- und fortbildungsfähig, so ist der Anfang
gewonnen, der gewonnen werden muß. Die Vollendung der nationalen Neu¬
gestaltung wird sich mit unerbittlicher Folgerichtigkeit vollziehen. Aehnlich
jenem Naturgesetz scheint die Geschwindigkeit der Annäherung an das nationale
Ziel mit der Annäherung zuzunehmen. Wer will heute voraussagen, wo wir
angelangt sind, wenn wir 1880 schreiben?


^


Weißenstein und Wilhelmshöhe.
Ein Scholion zu Goethe.

Herr Adolf Schöll in Weimar hat kürzlich (vgl. Grenzv. 1870, Heft 22)
einen Vers in Goethe's "neuesten aus Plundersweilern" nach der Urschrift
vervollständigt.

Er lautet nach ihm jetzt so:


"Und zwar mag es nicht etwa sein,
Wie zwischen Kassel und Weißenstein,
Als 'wo man emsig und zu Haus
Macht Vogelbauer auf den Kauf,
Und sendet gegen fremdes Geld
Die Vöglein in die weite Welt".

Die Worte "Kassel und Weißenstein" fehlten in den bisherigen
Ausgaben; statt ihrer standen drei Gedankenstriche da. Ohne diese Worte
war die Stelle für uns unverständlich. Schöll erklärt sie jetzt so: das Ge¬
dicht ist von 1781. Damals regierte in Kassel der Landgraf Friedrich II>,
bekannt durch den einträglichen Menschenhandel mit England. Er residirte
gern auf jener Wilhelmshöhe bei Kassel, die jetzt dem Kaiser Napoleon III.
als Aufenthalt dient. Sie hieß damals noch Weißenstein. Den Namen
Wilhelmshöhe hat ihr erst Landgraf Wilhelm IX von Kassel beigelegt, welcher
1803 Kurfürst ward und dadurch von "Wilhelm IX." zu "Wilhelm I." avam-


als eine seiner Aufgaben zu bezeichnen. Wie manches ist in Deutschland
trotz aller Beihilfe der Staaten, Provinzen und großen Stadtgemeinden,
trotz der Opferwilligkeit vieler Bürger auf dem geistigen Gebiete zu schaffen,
was durch ein großes Staatswesen geschaffen werden kann und geschaffen
werden soll!

Die neue deutsche Bundesverfassung wird die Erwartungen Vieler nicht
erfüllen, aber sicher wie die norddeutsche in Wirklichkeit mehr gewähren als
sie von vorn herein gewähren zu können scheint. Begründet sie ein deutsches
Staatswesen, das entwickelungs- und fortbildungsfähig, so ist der Anfang
gewonnen, der gewonnen werden muß. Die Vollendung der nationalen Neu¬
gestaltung wird sich mit unerbittlicher Folgerichtigkeit vollziehen. Aehnlich
jenem Naturgesetz scheint die Geschwindigkeit der Annäherung an das nationale
Ziel mit der Annäherung zuzunehmen. Wer will heute voraussagen, wo wir
angelangt sind, wenn wir 1880 schreiben?


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Weißenstein und Wilhelmshöhe.
Ein Scholion zu Goethe.

Herr Adolf Schöll in Weimar hat kürzlich (vgl. Grenzv. 1870, Heft 22)
einen Vers in Goethe's „neuesten aus Plundersweilern" nach der Urschrift
vervollständigt.

Er lautet nach ihm jetzt so:


„Und zwar mag es nicht etwa sein,
Wie zwischen Kassel und Weißenstein,
Als 'wo man emsig und zu Haus
Macht Vogelbauer auf den Kauf,
Und sendet gegen fremdes Geld
Die Vöglein in die weite Welt".

Die Worte „Kassel und Weißenstein" fehlten in den bisherigen
Ausgaben; statt ihrer standen drei Gedankenstriche da. Ohne diese Worte
war die Stelle für uns unverständlich. Schöll erklärt sie jetzt so: das Ge¬
dicht ist von 1781. Damals regierte in Kassel der Landgraf Friedrich II>,
bekannt durch den einträglichen Menschenhandel mit England. Er residirte
gern auf jener Wilhelmshöhe bei Kassel, die jetzt dem Kaiser Napoleon III.
als Aufenthalt dient. Sie hieß damals noch Weißenstein. Den Namen
Wilhelmshöhe hat ihr erst Landgraf Wilhelm IX von Kassel beigelegt, welcher
1803 Kurfürst ward und dadurch von „Wilhelm IX." zu „Wilhelm I." avam-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/46>, abgerufen am 22.12.2024.