Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Aus Schwaben.

Auf den 6. December sind die Wahlen zu der neuen würtembergischen
Kammer ausgeschrieben, welcher die zu erwartende Vereinbarung von Ver¬
sailles zur Genehmigung vorgelegt werden wird. Ausdrücklich zu diesem
Zweck sind die Neuwahlen angeordnet worden. Aus der Tiefe des allge¬
meinen Stimmrechts soll die Zustimmung zu dem künftigen Bundesverhält¬
niß geschöpft werden. So gestalten sich die Wahlen zu einem untrüglichen
Gradmesser, wie das würtenbergische Volk sich heute zu der Frage der deut¬
schen Einheit stellt. Allbekannt und unvergessen ist, wie es sich bis zum
Juli d. I. zu dieser Frage stellte. Welchen Eindruck hat der nationale Krieg
mit seinen Opfern, seinen Erfolgen und seinen Zielen auf die Bevölkerung
des Schwabenlandes gemacht, ist der alte Trotz durch die rühmliche Waffen¬
gemeinschaft aufgeweicht, sind langgenährte Vorurtheile und Befürchtungen
vor den klaren Thatsachen gewichen, hat sich der Haß in Liebe gewandelt?
-- Darauf sollen die Wahlen des S. December Antwort geben.

Leichter als irgendwo scheint es in Schwaben den Puls der öffentlichen Mei¬
nung zu fühlen und ein ganz bestimmtes Urtheil über die vorherrschende Stimmung
des Landes zu gewinnen. Denn der Schwabe ist gewöhnt, den Gang der Ereignisse
mit häusigen Meinungsäußerungen zu begleiten, in welchen er sich mit sich selbst
und mit den Ereignissen auseinandersetzt. Was er glücklich in sich verarbeitet
hat, davon gibt er alsbald Kunde, die Welt soll nicht im Zweifel gelassen
werden, wie die Geister am Nesenbach von den Begebnissen des Tages be¬
rührt sind. Schon in gewöhnlichen Zeiten vergeht kein Jahr, ohne daß mehr¬
fach die eine wie die andere Partei theils in ihren Führern, theils in größerer
Masse sich zusammenthut, um ein erneutes Bekenntniß ihrer politischen Ge¬
sinnung abzulegen, oder das bisherige an den Thatsachen zu messen, wofern
nicht das Andere und Häufigere geschieht, daß nämlich die Thatsachen viel¬
mehr nach dem Bekenntniß gemessen werden. Die Zwischenzeit aber verstreicht
nicht, ohne daß einzelne Gau- oder Bezirksversammlungen zur Stärkung der
Gleichgesinnten dienen und dafür sorgen, daß die Schlagwörter der Partei
nicht in Vergessenheit gerathen. Sind die Zeiten bewegter, so wird der Beschluß
gefaßt, die sogenannte Landesagitation zu veranstalten, wozu die Mittel stets
vorrcithtg auf Lager liegen. In der Hauptstadt wird dann eine Parole er¬
theilt, ein hurtiges Formular wird in die Provinz hinaus verbreitet, überall
werden Versammlungen gehalten, die nach Anhörung einiger mehr oder
weniger beliebter Redner besagtes Formular gleichfalls einstimmig adoptiren-


Aus Schwaben.

Auf den 6. December sind die Wahlen zu der neuen würtembergischen
Kammer ausgeschrieben, welcher die zu erwartende Vereinbarung von Ver¬
sailles zur Genehmigung vorgelegt werden wird. Ausdrücklich zu diesem
Zweck sind die Neuwahlen angeordnet worden. Aus der Tiefe des allge¬
meinen Stimmrechts soll die Zustimmung zu dem künftigen Bundesverhält¬
niß geschöpft werden. So gestalten sich die Wahlen zu einem untrüglichen
Gradmesser, wie das würtenbergische Volk sich heute zu der Frage der deut¬
schen Einheit stellt. Allbekannt und unvergessen ist, wie es sich bis zum
Juli d. I. zu dieser Frage stellte. Welchen Eindruck hat der nationale Krieg
mit seinen Opfern, seinen Erfolgen und seinen Zielen auf die Bevölkerung
des Schwabenlandes gemacht, ist der alte Trotz durch die rühmliche Waffen¬
gemeinschaft aufgeweicht, sind langgenährte Vorurtheile und Befürchtungen
vor den klaren Thatsachen gewichen, hat sich der Haß in Liebe gewandelt?
— Darauf sollen die Wahlen des S. December Antwort geben.

Leichter als irgendwo scheint es in Schwaben den Puls der öffentlichen Mei¬
nung zu fühlen und ein ganz bestimmtes Urtheil über die vorherrschende Stimmung
des Landes zu gewinnen. Denn der Schwabe ist gewöhnt, den Gang der Ereignisse
mit häusigen Meinungsäußerungen zu begleiten, in welchen er sich mit sich selbst
und mit den Ereignissen auseinandersetzt. Was er glücklich in sich verarbeitet
hat, davon gibt er alsbald Kunde, die Welt soll nicht im Zweifel gelassen
werden, wie die Geister am Nesenbach von den Begebnissen des Tages be¬
rührt sind. Schon in gewöhnlichen Zeiten vergeht kein Jahr, ohne daß mehr¬
fach die eine wie die andere Partei theils in ihren Führern, theils in größerer
Masse sich zusammenthut, um ein erneutes Bekenntniß ihrer politischen Ge¬
sinnung abzulegen, oder das bisherige an den Thatsachen zu messen, wofern
nicht das Andere und Häufigere geschieht, daß nämlich die Thatsachen viel¬
mehr nach dem Bekenntniß gemessen werden. Die Zwischenzeit aber verstreicht
nicht, ohne daß einzelne Gau- oder Bezirksversammlungen zur Stärkung der
Gleichgesinnten dienen und dafür sorgen, daß die Schlagwörter der Partei
nicht in Vergessenheit gerathen. Sind die Zeiten bewegter, so wird der Beschluß
gefaßt, die sogenannte Landesagitation zu veranstalten, wozu die Mittel stets
vorrcithtg auf Lager liegen. In der Hauptstadt wird dann eine Parole er¬
theilt, ein hurtiges Formular wird in die Provinz hinaus verbreitet, überall
werden Versammlungen gehalten, die nach Anhörung einiger mehr oder
weniger beliebter Redner besagtes Formular gleichfalls einstimmig adoptiren-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0360" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/125066"/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Aus Schwaben.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1085"> Auf den 6. December sind die Wahlen zu der neuen würtembergischen<lb/>
Kammer ausgeschrieben, welcher die zu erwartende Vereinbarung von Ver¬<lb/>
sailles zur Genehmigung vorgelegt werden wird. Ausdrücklich zu diesem<lb/>
Zweck sind die Neuwahlen angeordnet worden. Aus der Tiefe des allge¬<lb/>
meinen Stimmrechts soll die Zustimmung zu dem künftigen Bundesverhält¬<lb/>
niß geschöpft werden. So gestalten sich die Wahlen zu einem untrüglichen<lb/>
Gradmesser, wie das würtenbergische Volk sich heute zu der Frage der deut¬<lb/>
schen Einheit stellt. Allbekannt und unvergessen ist, wie es sich bis zum<lb/>
Juli d. I. zu dieser Frage stellte. Welchen Eindruck hat der nationale Krieg<lb/>
mit seinen Opfern, seinen Erfolgen und seinen Zielen auf die Bevölkerung<lb/>
des Schwabenlandes gemacht, ist der alte Trotz durch die rühmliche Waffen¬<lb/>
gemeinschaft aufgeweicht, sind langgenährte Vorurtheile und Befürchtungen<lb/>
vor den klaren Thatsachen gewichen, hat sich der Haß in Liebe gewandelt?<lb/>
&#x2014; Darauf sollen die Wahlen des S. December Antwort geben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1086" next="#ID_1087"> Leichter als irgendwo scheint es in Schwaben den Puls der öffentlichen Mei¬<lb/>
nung zu fühlen und ein ganz bestimmtes Urtheil über die vorherrschende Stimmung<lb/>
des Landes zu gewinnen. Denn der Schwabe ist gewöhnt, den Gang der Ereignisse<lb/>
mit häusigen Meinungsäußerungen zu begleiten, in welchen er sich mit sich selbst<lb/>
und mit den Ereignissen auseinandersetzt. Was er glücklich in sich verarbeitet<lb/>
hat, davon gibt er alsbald Kunde, die Welt soll nicht im Zweifel gelassen<lb/>
werden, wie die Geister am Nesenbach von den Begebnissen des Tages be¬<lb/>
rührt sind. Schon in gewöhnlichen Zeiten vergeht kein Jahr, ohne daß mehr¬<lb/>
fach die eine wie die andere Partei theils in ihren Führern, theils in größerer<lb/>
Masse sich zusammenthut, um ein erneutes Bekenntniß ihrer politischen Ge¬<lb/>
sinnung abzulegen, oder das bisherige an den Thatsachen zu messen, wofern<lb/>
nicht das Andere und Häufigere geschieht, daß nämlich die Thatsachen viel¬<lb/>
mehr nach dem Bekenntniß gemessen werden. Die Zwischenzeit aber verstreicht<lb/>
nicht, ohne daß einzelne Gau- oder Bezirksversammlungen zur Stärkung der<lb/>
Gleichgesinnten dienen und dafür sorgen, daß die Schlagwörter der Partei<lb/>
nicht in Vergessenheit gerathen. Sind die Zeiten bewegter, so wird der Beschluß<lb/>
gefaßt, die sogenannte Landesagitation zu veranstalten, wozu die Mittel stets<lb/>
vorrcithtg auf Lager liegen. In der Hauptstadt wird dann eine Parole er¬<lb/>
theilt, ein hurtiges Formular wird in die Provinz hinaus verbreitet, überall<lb/>
werden Versammlungen gehalten, die nach Anhörung einiger mehr oder<lb/>
weniger beliebter Redner besagtes Formular gleichfalls einstimmig adoptiren-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0360] Aus Schwaben. Auf den 6. December sind die Wahlen zu der neuen würtembergischen Kammer ausgeschrieben, welcher die zu erwartende Vereinbarung von Ver¬ sailles zur Genehmigung vorgelegt werden wird. Ausdrücklich zu diesem Zweck sind die Neuwahlen angeordnet worden. Aus der Tiefe des allge¬ meinen Stimmrechts soll die Zustimmung zu dem künftigen Bundesverhält¬ niß geschöpft werden. So gestalten sich die Wahlen zu einem untrüglichen Gradmesser, wie das würtenbergische Volk sich heute zu der Frage der deut¬ schen Einheit stellt. Allbekannt und unvergessen ist, wie es sich bis zum Juli d. I. zu dieser Frage stellte. Welchen Eindruck hat der nationale Krieg mit seinen Opfern, seinen Erfolgen und seinen Zielen auf die Bevölkerung des Schwabenlandes gemacht, ist der alte Trotz durch die rühmliche Waffen¬ gemeinschaft aufgeweicht, sind langgenährte Vorurtheile und Befürchtungen vor den klaren Thatsachen gewichen, hat sich der Haß in Liebe gewandelt? — Darauf sollen die Wahlen des S. December Antwort geben. Leichter als irgendwo scheint es in Schwaben den Puls der öffentlichen Mei¬ nung zu fühlen und ein ganz bestimmtes Urtheil über die vorherrschende Stimmung des Landes zu gewinnen. Denn der Schwabe ist gewöhnt, den Gang der Ereignisse mit häusigen Meinungsäußerungen zu begleiten, in welchen er sich mit sich selbst und mit den Ereignissen auseinandersetzt. Was er glücklich in sich verarbeitet hat, davon gibt er alsbald Kunde, die Welt soll nicht im Zweifel gelassen werden, wie die Geister am Nesenbach von den Begebnissen des Tages be¬ rührt sind. Schon in gewöhnlichen Zeiten vergeht kein Jahr, ohne daß mehr¬ fach die eine wie die andere Partei theils in ihren Führern, theils in größerer Masse sich zusammenthut, um ein erneutes Bekenntniß ihrer politischen Ge¬ sinnung abzulegen, oder das bisherige an den Thatsachen zu messen, wofern nicht das Andere und Häufigere geschieht, daß nämlich die Thatsachen viel¬ mehr nach dem Bekenntniß gemessen werden. Die Zwischenzeit aber verstreicht nicht, ohne daß einzelne Gau- oder Bezirksversammlungen zur Stärkung der Gleichgesinnten dienen und dafür sorgen, daß die Schlagwörter der Partei nicht in Vergessenheit gerathen. Sind die Zeiten bewegter, so wird der Beschluß gefaßt, die sogenannte Landesagitation zu veranstalten, wozu die Mittel stets vorrcithtg auf Lager liegen. In der Hauptstadt wird dann eine Parole er¬ theilt, ein hurtiges Formular wird in die Provinz hinaus verbreitet, überall werden Versammlungen gehalten, die nach Anhörung einiger mehr oder weniger beliebter Redner besagtes Formular gleichfalls einstimmig adoptiren-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/360
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/360>, abgerufen am 22.12.2024.