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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Ahnen erinnernd wie seiner Heldenthaten eingedenk immer neuen Muth,
Begeisterung, Opferfreudigkeit gewinnen muß, so dankt es dieß zum Theil auch
dem, daß seine wissenschaftlichen Lehrer seit Decennien mit Ernst daran
gearbeitet haben, ihm in seiner Geschichte das getreue Bild seiner selbst,
gleichsam sein Gewissen vorzuhalten. Das Gegentheil sehen wir auf der
andern Seite: officiell und nicht officiell, unablässig werden die Franzosen
durch ihre buntschillernde durch' und durch subjective Geschichtsdarstellung
über ihre wahre Stellung inmitten der europäischen Staatenrvelt getäuscht,
werden ihnen die Gaukeleien maßloser Eitelkeit und Selbstüberhebung ge¬
predigt. Sie ist die Schule der verlogenen Spieler, die jetzt die Geschicke
Frankreichs zur Katastrophe treiben, und sie hat an ihrem Theile die Fäl¬
schung des sittlichen Bewußtseins erzogen, welcher hört und glaubt, daß der
Mann des zweiten Decembers die Zuaven und Kabylen zur Civilisirung
Europas auf die deutschen Stämme hetzt! Die Thatsachen werden darlegen,
daß ganze Nationen sich verhalten wie Individuen, daß nur der Mann,
welcher das subjective Gelüsten zurückdrängend sich und die umgebende Welt
der Erscheinungen in ihrem innersten Kern zu erkennen ringt, der überall
zunächst zu verstehen sucht und nur nach dem Maaße seines Verständnisses
urtheilt und handelt, allein dauernde Erfolgs erringt. -- Doch verlieren wir
uns nicht in die Fernen, die dunkel und schicksalsschwer vor uns liegen.
Wir wollten an einem eclatanten Beispiel nachweisen, wie der Geist der
Verläumdung und Täuschung auch in den Kreisen französischer Gelehrten
herrscht, wie ihre wissenschaftlichen Arbeiten bis zum Ekel vom Chauvinismus
erfüllt sind. Männer dieser Richtung zu belehren, wäre verlorene Mühe, es
genügt, sie bloß zu stellen.




Berliner Briefe.
II.

Auf die Tage der Ruhe, wie ich sie Ihnen im ersten Briefe schilderte,
folgte für unsere Stadt eine gar bewegte Woche. Zwar von den Grenzen
ist noch nichts Erhebliches gemeldet worden; die jähe Geschwindigkeit der
Ereignisse, an die uns unsere Zeit gewöhnt hat, wird doch immer von der
vordringenden Hast unserer Wünsche noch weit überholt; erst bei einigem
Nachdenken überzeugt man sich, daß jeder Tag des Aufschubs ein Gewinn


Ahnen erinnernd wie seiner Heldenthaten eingedenk immer neuen Muth,
Begeisterung, Opferfreudigkeit gewinnen muß, so dankt es dieß zum Theil auch
dem, daß seine wissenschaftlichen Lehrer seit Decennien mit Ernst daran
gearbeitet haben, ihm in seiner Geschichte das getreue Bild seiner selbst,
gleichsam sein Gewissen vorzuhalten. Das Gegentheil sehen wir auf der
andern Seite: officiell und nicht officiell, unablässig werden die Franzosen
durch ihre buntschillernde durch' und durch subjective Geschichtsdarstellung
über ihre wahre Stellung inmitten der europäischen Staatenrvelt getäuscht,
werden ihnen die Gaukeleien maßloser Eitelkeit und Selbstüberhebung ge¬
predigt. Sie ist die Schule der verlogenen Spieler, die jetzt die Geschicke
Frankreichs zur Katastrophe treiben, und sie hat an ihrem Theile die Fäl¬
schung des sittlichen Bewußtseins erzogen, welcher hört und glaubt, daß der
Mann des zweiten Decembers die Zuaven und Kabylen zur Civilisirung
Europas auf die deutschen Stämme hetzt! Die Thatsachen werden darlegen,
daß ganze Nationen sich verhalten wie Individuen, daß nur der Mann,
welcher das subjective Gelüsten zurückdrängend sich und die umgebende Welt
der Erscheinungen in ihrem innersten Kern zu erkennen ringt, der überall
zunächst zu verstehen sucht und nur nach dem Maaße seines Verständnisses
urtheilt und handelt, allein dauernde Erfolgs erringt. — Doch verlieren wir
uns nicht in die Fernen, die dunkel und schicksalsschwer vor uns liegen.
Wir wollten an einem eclatanten Beispiel nachweisen, wie der Geist der
Verläumdung und Täuschung auch in den Kreisen französischer Gelehrten
herrscht, wie ihre wissenschaftlichen Arbeiten bis zum Ekel vom Chauvinismus
erfüllt sind. Männer dieser Richtung zu belehren, wäre verlorene Mühe, es
genügt, sie bloß zu stellen.




Berliner Briefe.
II.

Auf die Tage der Ruhe, wie ich sie Ihnen im ersten Briefe schilderte,
folgte für unsere Stadt eine gar bewegte Woche. Zwar von den Grenzen
ist noch nichts Erhebliches gemeldet worden; die jähe Geschwindigkeit der
Ereignisse, an die uns unsere Zeit gewöhnt hat, wird doch immer von der
vordringenden Hast unserer Wünsche noch weit überholt; erst bei einigem
Nachdenken überzeugt man sich, daß jeder Tag des Aufschubs ein Gewinn


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/243>, abgerufen am 27.07.2024.