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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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jungen Männer, daß nicht jeder Soldat nothwendig sterben müsse. Besser
wäre es freilich, nicht die Caserne, sondern die Schule führte den Italienern
den reichsten Stoff moderner Cultur zu. So lange aber nicht der Schul¬
zwang gesetzlich bestimmt ist, wird die große Zahl neueröffneter Schulen nicht
die erwarteten Früchte tragen. Bet der natürlichen Gewandtheit und An¬
stelligkeit der Sicilianer merkt man es übrigens kaum, daß von 100 Indivi¬
duen blos zehn lesen und schreiben können, dagegen wird die Dürftigkeit des
mittleren Unterrichts, der Mangel gut eingerichteter Bürgerschulen bei dem
Verkehr mit den Mittelclassen sofort klar.

Jedenfalls bleibt ein Trost: Palermo hat seit 1861 fünfzehn verschiedene
Statthalter, Commissäre, Präfecten gehabt, also fünfzehn verschiedene politische
Curmethoden an sich erfahren und ist nicht zu Grunde gegangen. Ein Land,
dessen Hauptstadt so viel vertragen kann, besitzt einen guten Kern. Es ist
ein gutes Zeichen, daß die fremden Kaufleute klagen, zur Zeit der alten Re¬
gierung hätten sie leichter große Reichthümer erwerben können, weil die Ein¬
heimischen von jeder Mitbewerbung zurückstanden, während sich jetzt die Thä¬
tigkeit der sicilianischen Firmen stark fühlbar mache und den Fremden eine
wirksame Concurrenz bereite. Bedenklich hinwieder ist, daß die Einfuhr so
sehr gegen die Ausfuhr zurückbleibt und z. B. die Fracht aus Nordamerika
sich auf Bauholz einschränkt. Die geringe Bedeutung der heimischen In¬
dustrie nimmt nicht Wunder, dagegen wirft es einen trüben Schatten auf die
öconomischen Zustände, daß auch die Agrieulturbevölkerung weit unter dem
Durchschnitt des übrigen Italiens bleibt (in Italien kommen 35 Ackerbauer
auf 100 Individuen. aus Sicilien blos 23) und die Insel überhaupt nur 30,000
Grundeigenthümer zählt. Theilung der großen Grundcomplexe, Steigerung
des Credites und Hebung der Communicationsmittel sind die Lebensbeding¬
ungen für die materielle Wohlfahrt der Insel. Darin, kann Sicilien noch
die Vergangenheit übertreffen, schwerlich werden sich aber die Zeiten künstle¬
rischer Blüthe wiederholen, welche vor Jahrhunderten das Land zu einem
Hauptträger geistiger Bildung in Europa machte.


A. S.


Bas englische Werkhaus.

Die Entstehung der sächsischen Bezirksarmenarbettshäuser bietet zahlreiche
Parallelen mit derjenigen der englischen Werkhäuser dar, namentlich auch
darin, daß selbst gründliche Beobachter mitunter geneigt sind, dem äugen-


jungen Männer, daß nicht jeder Soldat nothwendig sterben müsse. Besser
wäre es freilich, nicht die Caserne, sondern die Schule führte den Italienern
den reichsten Stoff moderner Cultur zu. So lange aber nicht der Schul¬
zwang gesetzlich bestimmt ist, wird die große Zahl neueröffneter Schulen nicht
die erwarteten Früchte tragen. Bet der natürlichen Gewandtheit und An¬
stelligkeit der Sicilianer merkt man es übrigens kaum, daß von 100 Indivi¬
duen blos zehn lesen und schreiben können, dagegen wird die Dürftigkeit des
mittleren Unterrichts, der Mangel gut eingerichteter Bürgerschulen bei dem
Verkehr mit den Mittelclassen sofort klar.

Jedenfalls bleibt ein Trost: Palermo hat seit 1861 fünfzehn verschiedene
Statthalter, Commissäre, Präfecten gehabt, also fünfzehn verschiedene politische
Curmethoden an sich erfahren und ist nicht zu Grunde gegangen. Ein Land,
dessen Hauptstadt so viel vertragen kann, besitzt einen guten Kern. Es ist
ein gutes Zeichen, daß die fremden Kaufleute klagen, zur Zeit der alten Re¬
gierung hätten sie leichter große Reichthümer erwerben können, weil die Ein¬
heimischen von jeder Mitbewerbung zurückstanden, während sich jetzt die Thä¬
tigkeit der sicilianischen Firmen stark fühlbar mache und den Fremden eine
wirksame Concurrenz bereite. Bedenklich hinwieder ist, daß die Einfuhr so
sehr gegen die Ausfuhr zurückbleibt und z. B. die Fracht aus Nordamerika
sich auf Bauholz einschränkt. Die geringe Bedeutung der heimischen In¬
dustrie nimmt nicht Wunder, dagegen wirft es einen trüben Schatten auf die
öconomischen Zustände, daß auch die Agrieulturbevölkerung weit unter dem
Durchschnitt des übrigen Italiens bleibt (in Italien kommen 35 Ackerbauer
auf 100 Individuen. aus Sicilien blos 23) und die Insel überhaupt nur 30,000
Grundeigenthümer zählt. Theilung der großen Grundcomplexe, Steigerung
des Credites und Hebung der Communicationsmittel sind die Lebensbeding¬
ungen für die materielle Wohlfahrt der Insel. Darin, kann Sicilien noch
die Vergangenheit übertreffen, schwerlich werden sich aber die Zeiten künstle¬
rischer Blüthe wiederholen, welche vor Jahrhunderten das Land zu einem
Hauptträger geistiger Bildung in Europa machte.


A. S.


Bas englische Werkhaus.

Die Entstehung der sächsischen Bezirksarmenarbettshäuser bietet zahlreiche
Parallelen mit derjenigen der englischen Werkhäuser dar, namentlich auch
darin, daß selbst gründliche Beobachter mitunter geneigt sind, dem äugen-


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[0500] jungen Männer, daß nicht jeder Soldat nothwendig sterben müsse. Besser wäre es freilich, nicht die Caserne, sondern die Schule führte den Italienern den reichsten Stoff moderner Cultur zu. So lange aber nicht der Schul¬ zwang gesetzlich bestimmt ist, wird die große Zahl neueröffneter Schulen nicht die erwarteten Früchte tragen. Bet der natürlichen Gewandtheit und An¬ stelligkeit der Sicilianer merkt man es übrigens kaum, daß von 100 Indivi¬ duen blos zehn lesen und schreiben können, dagegen wird die Dürftigkeit des mittleren Unterrichts, der Mangel gut eingerichteter Bürgerschulen bei dem Verkehr mit den Mittelclassen sofort klar. Jedenfalls bleibt ein Trost: Palermo hat seit 1861 fünfzehn verschiedene Statthalter, Commissäre, Präfecten gehabt, also fünfzehn verschiedene politische Curmethoden an sich erfahren und ist nicht zu Grunde gegangen. Ein Land, dessen Hauptstadt so viel vertragen kann, besitzt einen guten Kern. Es ist ein gutes Zeichen, daß die fremden Kaufleute klagen, zur Zeit der alten Re¬ gierung hätten sie leichter große Reichthümer erwerben können, weil die Ein¬ heimischen von jeder Mitbewerbung zurückstanden, während sich jetzt die Thä¬ tigkeit der sicilianischen Firmen stark fühlbar mache und den Fremden eine wirksame Concurrenz bereite. Bedenklich hinwieder ist, daß die Einfuhr so sehr gegen die Ausfuhr zurückbleibt und z. B. die Fracht aus Nordamerika sich auf Bauholz einschränkt. Die geringe Bedeutung der heimischen In¬ dustrie nimmt nicht Wunder, dagegen wirft es einen trüben Schatten auf die öconomischen Zustände, daß auch die Agrieulturbevölkerung weit unter dem Durchschnitt des übrigen Italiens bleibt (in Italien kommen 35 Ackerbauer auf 100 Individuen. aus Sicilien blos 23) und die Insel überhaupt nur 30,000 Grundeigenthümer zählt. Theilung der großen Grundcomplexe, Steigerung des Credites und Hebung der Communicationsmittel sind die Lebensbeding¬ ungen für die materielle Wohlfahrt der Insel. Darin, kann Sicilien noch die Vergangenheit übertreffen, schwerlich werden sich aber die Zeiten künstle¬ rischer Blüthe wiederholen, welche vor Jahrhunderten das Land zu einem Hauptträger geistiger Bildung in Europa machte. A. S. Bas englische Werkhaus. Die Entstehung der sächsischen Bezirksarmenarbettshäuser bietet zahlreiche Parallelen mit derjenigen der englischen Werkhäuser dar, namentlich auch darin, daß selbst gründliche Beobachter mitunter geneigt sind, dem äugen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/500>, abgerufen am 27.07.2024.