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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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Der oberste Gerichtshof vor 400 Jahren.

Trügen nicht alle Zeichen, so stehen wir am Vorabende der Gründung eines
neuen obersten Gerichtshofes sür das ganze Deutschland des norddeutschen
Bundes. Wir hoffen, daß das neue Reich und Recht ein anderes wird, als
das heilige römische Reich deutscher Nation und seine obersten Gerichtshöfe.
Es frommt auch hier zurückzublicken in die gute alte Zeit. Oft ist geschil¬
dert worden, wie die Zustände des "römischer königlicher Majestät Kammer¬
gerichts" doch über Alles hinausgingen, was wir heute zu ertragen ver¬
möchten. Daß Jahrzehnte die Processe sich hinschleppten, bis die Parteien
darüber starben und verdarben, ist allgemein bekannt, auch hat mancher Leser
vielleicht von Großvaters Zeit her die Sage vernommen, in Wetzlar (dem
letzten Sitze des Reichskammergerichts) seien die Massen der unerledigten
Acten unter der Decke der Repositur aufgehangen gewesen und man habe
gewartet, welcher Fascikel zuerst von der morschen Schnur herabfalle,
um diesen zuerst zur Erledigung zu bringen. Mag dies ein Märchen sein,
jedenfalls liegt viel Charakteristisches darin. Thatsache ist aber, daß ganze
Stöße der in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts und später ein¬
gegangenen Acten bei Vertheilung des Reichskammergerichts an die einzelnen
deutschen Staaten in den Jahren 1848 bis 1862 -- noch wohl verpackt
und versiegelt, wie sie von den unteren Gerichten an das Reichsgericht
eingesandt wurden, -- überliefert sind und daß sie alle wohl sür immer in
diesem Zustande ruhen werden, außer den Fascikeln, die Schreiber dieses
zur Befriedigung seiner Neugierde geöffnet hat.

Einen klaren Einblick, wie die Reichsjustiz geübt wurde, gewinnen wir
erst, wenn wir uns einen der vor dem Reichskammergericht verhandelten
Processe im Einzelnen vorführen. Wir wählen dazu einen möglichst einfachen
und allgemein verständlichen Fall, der unter schlichten Bauerleuten vor sich
ging und der gerade der erste und älteste der gesammten Reichskammer-
gertchtsrepositur ist, ja bis vor die eigentliche Gründung des Reichskammer¬
gerichts noch zurückragt. Er spielt von 1491 bis 1497 und bildet die
Nummer 1 des Buchstabens ^. der Repositur.

Man datirt die Existenz des Reichskammergerichts gewöhnlich von der
"Ordnung der römischen königlichen Majestät Chammergericht zu Worms
den 7. August 1495" -- gleichzeitig mit dem ewigen Landfrieden -- "auf¬
gerichtet." Aber schon vorher bestand "der ron. Maj. Chammergericht."
Seit der Kaiser als Inhaber der höchsten Reichsgewalt und damit auch der


Der oberste Gerichtshof vor 400 Jahren.

Trügen nicht alle Zeichen, so stehen wir am Vorabende der Gründung eines
neuen obersten Gerichtshofes sür das ganze Deutschland des norddeutschen
Bundes. Wir hoffen, daß das neue Reich und Recht ein anderes wird, als
das heilige römische Reich deutscher Nation und seine obersten Gerichtshöfe.
Es frommt auch hier zurückzublicken in die gute alte Zeit. Oft ist geschil¬
dert worden, wie die Zustände des „römischer königlicher Majestät Kammer¬
gerichts" doch über Alles hinausgingen, was wir heute zu ertragen ver¬
möchten. Daß Jahrzehnte die Processe sich hinschleppten, bis die Parteien
darüber starben und verdarben, ist allgemein bekannt, auch hat mancher Leser
vielleicht von Großvaters Zeit her die Sage vernommen, in Wetzlar (dem
letzten Sitze des Reichskammergerichts) seien die Massen der unerledigten
Acten unter der Decke der Repositur aufgehangen gewesen und man habe
gewartet, welcher Fascikel zuerst von der morschen Schnur herabfalle,
um diesen zuerst zur Erledigung zu bringen. Mag dies ein Märchen sein,
jedenfalls liegt viel Charakteristisches darin. Thatsache ist aber, daß ganze
Stöße der in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts und später ein¬
gegangenen Acten bei Vertheilung des Reichskammergerichts an die einzelnen
deutschen Staaten in den Jahren 1848 bis 1862 — noch wohl verpackt
und versiegelt, wie sie von den unteren Gerichten an das Reichsgericht
eingesandt wurden, — überliefert sind und daß sie alle wohl sür immer in
diesem Zustande ruhen werden, außer den Fascikeln, die Schreiber dieses
zur Befriedigung seiner Neugierde geöffnet hat.

Einen klaren Einblick, wie die Reichsjustiz geübt wurde, gewinnen wir
erst, wenn wir uns einen der vor dem Reichskammergericht verhandelten
Processe im Einzelnen vorführen. Wir wählen dazu einen möglichst einfachen
und allgemein verständlichen Fall, der unter schlichten Bauerleuten vor sich
ging und der gerade der erste und älteste der gesammten Reichskammer-
gertchtsrepositur ist, ja bis vor die eigentliche Gründung des Reichskammer¬
gerichts noch zurückragt. Er spielt von 1491 bis 1497 und bildet die
Nummer 1 des Buchstabens ^. der Repositur.

Man datirt die Existenz des Reichskammergerichts gewöhnlich von der
„Ordnung der römischen königlichen Majestät Chammergericht zu Worms
den 7. August 1495" — gleichzeitig mit dem ewigen Landfrieden — „auf¬
gerichtet." Aber schon vorher bestand „der ron. Maj. Chammergericht."
Seit der Kaiser als Inhaber der höchsten Reichsgewalt und damit auch der


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[0136] Der oberste Gerichtshof vor 400 Jahren. Trügen nicht alle Zeichen, so stehen wir am Vorabende der Gründung eines neuen obersten Gerichtshofes sür das ganze Deutschland des norddeutschen Bundes. Wir hoffen, daß das neue Reich und Recht ein anderes wird, als das heilige römische Reich deutscher Nation und seine obersten Gerichtshöfe. Es frommt auch hier zurückzublicken in die gute alte Zeit. Oft ist geschil¬ dert worden, wie die Zustände des „römischer königlicher Majestät Kammer¬ gerichts" doch über Alles hinausgingen, was wir heute zu ertragen ver¬ möchten. Daß Jahrzehnte die Processe sich hinschleppten, bis die Parteien darüber starben und verdarben, ist allgemein bekannt, auch hat mancher Leser vielleicht von Großvaters Zeit her die Sage vernommen, in Wetzlar (dem letzten Sitze des Reichskammergerichts) seien die Massen der unerledigten Acten unter der Decke der Repositur aufgehangen gewesen und man habe gewartet, welcher Fascikel zuerst von der morschen Schnur herabfalle, um diesen zuerst zur Erledigung zu bringen. Mag dies ein Märchen sein, jedenfalls liegt viel Charakteristisches darin. Thatsache ist aber, daß ganze Stöße der in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts und später ein¬ gegangenen Acten bei Vertheilung des Reichskammergerichts an die einzelnen deutschen Staaten in den Jahren 1848 bis 1862 — noch wohl verpackt und versiegelt, wie sie von den unteren Gerichten an das Reichsgericht eingesandt wurden, — überliefert sind und daß sie alle wohl sür immer in diesem Zustande ruhen werden, außer den Fascikeln, die Schreiber dieses zur Befriedigung seiner Neugierde geöffnet hat. Einen klaren Einblick, wie die Reichsjustiz geübt wurde, gewinnen wir erst, wenn wir uns einen der vor dem Reichskammergericht verhandelten Processe im Einzelnen vorführen. Wir wählen dazu einen möglichst einfachen und allgemein verständlichen Fall, der unter schlichten Bauerleuten vor sich ging und der gerade der erste und älteste der gesammten Reichskammer- gertchtsrepositur ist, ja bis vor die eigentliche Gründung des Reichskammer¬ gerichts noch zurückragt. Er spielt von 1491 bis 1497 und bildet die Nummer 1 des Buchstabens ^. der Repositur. Man datirt die Existenz des Reichskammergerichts gewöhnlich von der „Ordnung der römischen königlichen Majestät Chammergericht zu Worms den 7. August 1495" — gleichzeitig mit dem ewigen Landfrieden — „auf¬ gerichtet." Aber schon vorher bestand „der ron. Maj. Chammergericht." Seit der Kaiser als Inhaber der höchsten Reichsgewalt und damit auch der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/136>, abgerufen am 27.07.2024.