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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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höchsten Reichsjustiz nicht selbst in eigener Person mehr Recht sprach, sondern
Leute seines Hofes oder seines Cabinets (seiner Kammer) an seiner Stelle
damit beauftragte, gab es einen königlichen Hofrichter oder Kammerrichter,
dem zur Entscheidung des einzelnen Falles vom Kaiser gewählte Beisitzer zur
Seite traten. Wo jeweilig der Kaiser sich aufhielt, da ließ er Recht sprechen;
alle Verfügungen seiner Richter gingen ihrer äußeren Form nach von ihm,
dem Kaiser, selbst aus. Hieran änderte die Kammergerichtsordnung von 1495
nur soviel, daß 16 ständige Beisitzer, halb aus dem Adel, halb aus den ge¬
lehrten Juristen, neben dem gefürsteten Kammerrichter ernannt werden soll¬
ten; auch bestimmte der Landfrieden von 1493, daß das Kammergericht "an
einer bleibenden Stadt im heiligen Reiche zu halten." Die Handhabung des
Landfriedens, "der ohne redlich, ehrbar und förderlich Recht schwerlich in
Wesen bestehen mag", gebot diese neue Ordnung der Dinge; aber sie wurde
sehr mangelhaft befolgt; denn nicht nur wanderte bereits nach drei Mo¬
naten der Kaiser sammt dem Kammergericht, wie in früheren Zeiten, von
Worms nach Frankfurt, sondern im Jahr 1800 war das ganze Gericht
"etliche Zeit aus zugefallenen Mängeln stillgestanden und nicht ganghaftig
gewesen; durch den Reichstag zu Augsburg wurde es "wieder in Wesen
gestellt."

Unser Proceß fällt demnach in die Jahre, in denen das Reichskammer¬
gericht sich neu zu beleben begann.

Die handelnden Hauptpersonen sind zwei "eigene Leute" zu Hochstadt bei
Frankfurt, d. h. Leibeigne des Grafen Philipp von Hanau. Der Kläger trägt
den für unsere Ohren monströsen Namen Kusencontz oder Kausencontz, was
in heutiger, verfeinerter Sprache einfach Conrad Kauf heißen würde; der Ver¬
klagte nennt sich Appelnhenn oder -- von der dunkeln Farbe seiner Haut --
Mohrhenn, d. h. zu hochdeutsch: Johann Appel, genannt der schwarze Johann.
Kauf hatte eine Wittwe. Elfe Werner aus Hochstadt, beim "Frohnhofgericht"
zu Frankfurt (dem Gerichte des Propstes von Se. Bartholomäus daselbst
für seine Leibeigenen in der Grafschaft Hanau und Königstein) wegen einer
Schuld verklagt und die Wittwe war verurtheilt. Nach Behauptung des
Kauf hatte sich Appel für die Wittwe wegen der mit 23 si. entstandenen
Proceßkosten verbürgt. Kauf greift darum den vermeintlichen Bürgen beim
Landgericht zu Hanau, welchem das Dorf Hochstadt zugehört, auf die 23 si.
an; Appel leugnet die Bürgschaft; der Kläger bringt zum Beweise Zeugen
("Kundschaft") herbei und da sie die Bürgschaft bestätigen, erkennen Schult¬
heiß und Schöffen des Landgerichts Hanau, daß Kauf "seiner Kundschaft
genießen" und Appel "die Bürgschaft entgelten soll", d. h. daß der Beweis
des Klägers erbracht sei. Dies der ganze Sachverhalt. Er spielte sich vor
dem Hanauer Schöffengericht in drei Terminen ab; in dem einen versandet-


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höchsten Reichsjustiz nicht selbst in eigener Person mehr Recht sprach, sondern
Leute seines Hofes oder seines Cabinets (seiner Kammer) an seiner Stelle
damit beauftragte, gab es einen königlichen Hofrichter oder Kammerrichter,
dem zur Entscheidung des einzelnen Falles vom Kaiser gewählte Beisitzer zur
Seite traten. Wo jeweilig der Kaiser sich aufhielt, da ließ er Recht sprechen;
alle Verfügungen seiner Richter gingen ihrer äußeren Form nach von ihm,
dem Kaiser, selbst aus. Hieran änderte die Kammergerichtsordnung von 1495
nur soviel, daß 16 ständige Beisitzer, halb aus dem Adel, halb aus den ge¬
lehrten Juristen, neben dem gefürsteten Kammerrichter ernannt werden soll¬
ten; auch bestimmte der Landfrieden von 1493, daß das Kammergericht „an
einer bleibenden Stadt im heiligen Reiche zu halten." Die Handhabung des
Landfriedens, „der ohne redlich, ehrbar und förderlich Recht schwerlich in
Wesen bestehen mag", gebot diese neue Ordnung der Dinge; aber sie wurde
sehr mangelhaft befolgt; denn nicht nur wanderte bereits nach drei Mo¬
naten der Kaiser sammt dem Kammergericht, wie in früheren Zeiten, von
Worms nach Frankfurt, sondern im Jahr 1800 war das ganze Gericht
„etliche Zeit aus zugefallenen Mängeln stillgestanden und nicht ganghaftig
gewesen; durch den Reichstag zu Augsburg wurde es „wieder in Wesen
gestellt."

Unser Proceß fällt demnach in die Jahre, in denen das Reichskammer¬
gericht sich neu zu beleben begann.

Die handelnden Hauptpersonen sind zwei „eigene Leute" zu Hochstadt bei
Frankfurt, d. h. Leibeigne des Grafen Philipp von Hanau. Der Kläger trägt
den für unsere Ohren monströsen Namen Kusencontz oder Kausencontz, was
in heutiger, verfeinerter Sprache einfach Conrad Kauf heißen würde; der Ver¬
klagte nennt sich Appelnhenn oder — von der dunkeln Farbe seiner Haut —
Mohrhenn, d. h. zu hochdeutsch: Johann Appel, genannt der schwarze Johann.
Kauf hatte eine Wittwe. Elfe Werner aus Hochstadt, beim „Frohnhofgericht"
zu Frankfurt (dem Gerichte des Propstes von Se. Bartholomäus daselbst
für seine Leibeigenen in der Grafschaft Hanau und Königstein) wegen einer
Schuld verklagt und die Wittwe war verurtheilt. Nach Behauptung des
Kauf hatte sich Appel für die Wittwe wegen der mit 23 si. entstandenen
Proceßkosten verbürgt. Kauf greift darum den vermeintlichen Bürgen beim
Landgericht zu Hanau, welchem das Dorf Hochstadt zugehört, auf die 23 si.
an; Appel leugnet die Bürgschaft; der Kläger bringt zum Beweise Zeugen
(„Kundschaft") herbei und da sie die Bürgschaft bestätigen, erkennen Schult¬
heiß und Schöffen des Landgerichts Hanau, daß Kauf „seiner Kundschaft
genießen" und Appel „die Bürgschaft entgelten soll", d. h. daß der Beweis
des Klägers erbracht sei. Dies der ganze Sachverhalt. Er spielte sich vor
dem Hanauer Schöffengericht in drei Terminen ab; in dem einen versandet-


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[0137] höchsten Reichsjustiz nicht selbst in eigener Person mehr Recht sprach, sondern Leute seines Hofes oder seines Cabinets (seiner Kammer) an seiner Stelle damit beauftragte, gab es einen königlichen Hofrichter oder Kammerrichter, dem zur Entscheidung des einzelnen Falles vom Kaiser gewählte Beisitzer zur Seite traten. Wo jeweilig der Kaiser sich aufhielt, da ließ er Recht sprechen; alle Verfügungen seiner Richter gingen ihrer äußeren Form nach von ihm, dem Kaiser, selbst aus. Hieran änderte die Kammergerichtsordnung von 1495 nur soviel, daß 16 ständige Beisitzer, halb aus dem Adel, halb aus den ge¬ lehrten Juristen, neben dem gefürsteten Kammerrichter ernannt werden soll¬ ten; auch bestimmte der Landfrieden von 1493, daß das Kammergericht „an einer bleibenden Stadt im heiligen Reiche zu halten." Die Handhabung des Landfriedens, „der ohne redlich, ehrbar und förderlich Recht schwerlich in Wesen bestehen mag", gebot diese neue Ordnung der Dinge; aber sie wurde sehr mangelhaft befolgt; denn nicht nur wanderte bereits nach drei Mo¬ naten der Kaiser sammt dem Kammergericht, wie in früheren Zeiten, von Worms nach Frankfurt, sondern im Jahr 1800 war das ganze Gericht „etliche Zeit aus zugefallenen Mängeln stillgestanden und nicht ganghaftig gewesen; durch den Reichstag zu Augsburg wurde es „wieder in Wesen gestellt." Unser Proceß fällt demnach in die Jahre, in denen das Reichskammer¬ gericht sich neu zu beleben begann. Die handelnden Hauptpersonen sind zwei „eigene Leute" zu Hochstadt bei Frankfurt, d. h. Leibeigne des Grafen Philipp von Hanau. Der Kläger trägt den für unsere Ohren monströsen Namen Kusencontz oder Kausencontz, was in heutiger, verfeinerter Sprache einfach Conrad Kauf heißen würde; der Ver¬ klagte nennt sich Appelnhenn oder — von der dunkeln Farbe seiner Haut — Mohrhenn, d. h. zu hochdeutsch: Johann Appel, genannt der schwarze Johann. Kauf hatte eine Wittwe. Elfe Werner aus Hochstadt, beim „Frohnhofgericht" zu Frankfurt (dem Gerichte des Propstes von Se. Bartholomäus daselbst für seine Leibeigenen in der Grafschaft Hanau und Königstein) wegen einer Schuld verklagt und die Wittwe war verurtheilt. Nach Behauptung des Kauf hatte sich Appel für die Wittwe wegen der mit 23 si. entstandenen Proceßkosten verbürgt. Kauf greift darum den vermeintlichen Bürgen beim Landgericht zu Hanau, welchem das Dorf Hochstadt zugehört, auf die 23 si. an; Appel leugnet die Bürgschaft; der Kläger bringt zum Beweise Zeugen („Kundschaft") herbei und da sie die Bürgschaft bestätigen, erkennen Schult¬ heiß und Schöffen des Landgerichts Hanau, daß Kauf „seiner Kundschaft genießen" und Appel „die Bürgschaft entgelten soll", d. h. daß der Beweis des Klägers erbracht sei. Dies der ganze Sachverhalt. Er spielte sich vor dem Hanauer Schöffengericht in drei Terminen ab; in dem einen versandet- 17*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/137>, abgerufen am 18.12.2024.